Emile Zola

Lourdes


Скачать книгу

Mama! Warum sagst du mir das... Bin ich denn ein unvernünftiges Kind?«

      Sie brauchte sich nicht zu rühmen, denn ein starker Wille und der feste Entschluß, sich ihr Leben selbst zu gestalten, sprach aus den grauen Augen und leuchtete aus ihrem jugendlich unbekümmerten Wesen und der lauten Freude am Leben hervor.

      »Es ist wahr«, gestand die Mutter etwas verwirrt, »dieses kleine Mädchen hat zuweilen mehr recht als ich... Bitte, gib mir jetzt das Kotelett her! Gott im Himmel, was hatte ich für einen Hunger!«

      Das Frühstück nahm seinen Fortgang, durch das Lachen der Frau Desagneaux und Raymondens erheitert und gewürzt. Diese lebte ordentlich auf, und ihr Gesicht, das schon etwas verblüht war, bekam die rosige Farbe des zwanzigsten Jahres wieder. Man nahm doppelte Bissen, denn man hatte nur noch zehn Minuten. In dem Saale herrschte jetzt ein noch größerer Lärm als vorher, da die Gäste fürchteten, keine Zeit mehr zum Kaffee zu haben.

      Da erschien Pierre. Die Grivotte hatte einen neuen Erstickungsanfall bekommen. Frau von Jonquière verzehrte rasch ihre Artischocke. Dann kehrte sie zu ihrem Wagen zurück, nachdem sie vorher ihre Tochter umarmt hatte, die ihr heiter und unter Scherzworten gute Nacht sagte. Inzwischen hatte der junge Priester, als er Frau Volmar mit dem roten Kreuz auf ihrem schwarzen Kleide erblickte, seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, sie hier zu finden. Er kannte sie, denn er besuchte, wenn auch selten, die alte Frau Volmar, die Mutter des Diamantenhändlers, eine alte Bekannte seiner Mutter. Sie war ihm die schrecklichste aller Frauen und von einer solch übertriebenen Frömmigkeit und Strenge, daß sie die Fensterläden stets geschlossen hielt, damit ihre Schwiegertochter nicht auf die Straße sehen konnte. Er kannte ihre Geschichte: seit dem Tage nach ihrer Hochzeit lebte die arme junge Frau wie eine Gefangene zwischen ihrer Schwiegermutter, die sie terrorisierte, und ihrem Manne, der in seiner Eifersucht so weit ging, sie zu schlagen, obgleich er sich selbst verschiedene Mädchen hielt. Man ließ sie kaum allein in die Kirche gehen. Pierre war eines Tages hinter ihr Geheimnis gekommen, als er sie hinter der Kirche rasch einige Worte mit einem eleganten Herrn von vornehmem Aussehen wechseln sah. Verwirrt reichte sie ihm ihre kleine, schmale, kühle Hand.

      »Oh, welche Überraschung, Herr Abbé... Es ist schon lange her, daß man sich nicht gesehen hat.«

      Sie teilte ihm mit, es sei nun schon das drittemal, daß sie nach Lourdes gehe. Ihre Schwiegermutter habe sie gezwungen, der Association de NotreDame de salut beizutreten.

      »Es ist merkwürdig, daß Sie sie nicht auf dem Bahnhofe gesehen haben. Sie hat mich in den Zug gesetzt und wird mich auch bei der Rückkehr wieder abholen.«

      Das wurde sehr einfach gesagt, aber mit solch scharfer Ironie, daß Pierre sich das Seinige dabei dachte. Er wußte, daß sie an nichts glaubte und die Religion nur ausübte, um sich dadurch von Zeit zu Zeit eine freie Stunde zu verschaffen. Und plötzlich kam ihm die Erkenntnis, daß sie in Lourdes erwartet wurde, daß sie nur ihrer Leidenschaft nacheilte mit ihrem heißen Gesicht und den Flammenaugen, die sie unter dem Schleier toter Gleichgültigkeit verbarg.

      »Ich begleite eine Jugendfreundin, ein armes, krankes junges Mädchen«, sagte er seinerseits. »Ich empfehle sie Ihnen, Sie können sie vielleicht pflegen.«

      Sie wurde etwas rot, und nun zweifelte er nicht mehr. Raymonde brachte die Rechnung in Ordnung mit der Sicherheit einer Person, die mit Zahlen umzugehen weiß. Frau Desagneaux führte Frau Volmar fort. Die Kellner verloren ihren Kopf vollständig, die Tische leerten sich und alles stürzte eilig davon, als man eine Glocke läuten hörte.

      Auch Pierre beeilte sich, zu seinem Wagen zurückzukehren. Da wurde er von neuem aufgehalten.

      »Ah, Herr Kurat!« rief er. »Ich habe Sie schon bei der Abfahrt gesehen, aber ich konnte leider nicht bis zu Ihnen gelangen, um Ihnen die Hand zu drücken.«

      Er reichte einem alten Geistlichen von ehrwürdigem Aussehen die Hand, der ihn lächelnd betrachtete. Der Abbé Judaine war Kurat in Saligny, einer kleinen Gemeinde der Oise. Von großer und kräftiger Gestalt, hatte er ein breites, rotes, von weißen Locken umrahmtes Gesicht. Man fühlte es, daß er ein frommer Mann war, den weder das Fleisch noch der Verstand jemals gequält hatte. Von ruhiger Frömmigkeit, glaubte er fest und unerschütterlich, ohne jede Anfechtung mit dem bequemen Glauben eines Kindes, das keine Leidenschaft kennt. Nachdem ihn in Lourdes die Heilige Jungfrau von einem Augenleiden durch ein Wunder befreit hatte, von dem man noch jetzt sprach, war sein Glaube noch blinder und inniger geworden.

      »Ich bin zufrieden, daß ich Sie hier bei uns sehe, mein junger Freund«, sagte er sanft, »weil die jungen Priester bei diesen Pilgerfahrten viel lernen können ... Man hat mir versichert, daß zuweilen unter ihnen ein aufrührerischer Geist herrsche. Nun, sie sehen, daß alle diese armen Leute hier beten gehen; das ist ein Schauspiel, das einem Tränen entlocken muß ... Und wie ist es möglich, daß man sich nicht Gott in die Hände gibt beim Anblick von so viel geheilten oder doch wenigstens gemilderten Leiden?«

      Auch er begleitete eine Kranke. Er zeigte auf eine Abteilung erster Klasse: »Abbé Judaine, reserviert.« Dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu:

      »Wissen Sie, es ist Frau Dieulafay, die Frau des großen Bankiers. Ihr Schloß, ein wahrer Königssitz, gehört zu meinem Kirchspiele. Da sie wußten, daß die Heilige Jungfrau sich mir so außerordentlich gnädig erwiesen hatte, haben sie mich gebeten, für die arme Kranke Fürsprache einzulegen. Ich habe Messen gelesen, heiße Gelübde getan ... Sehen Sie, dort, auf der Erde! Sie hat durchaus gewollt, daß man sie einen Augenblick herausschaffen soll trotz der Mühe, die es kosten wird, sie wieder hineinzubringen.«

      An einer schattigen Stelle des Perrons lag eine Frau, deren schönes Gesicht von reinem Oval mit wunderbaren Augen auf ein Alter von nicht mehr als sechsundzwanzig Jahren schließen ließ. Sie war von einer schrecklichen Krankheit befallen, dem Schwinden der kalkartigen Salze, das eine Erweichung des ganzen Knochengerüstes nach sich zog. Als sie vor drei Jahren mit einem toten Kinde niedergekommen war, verspürte sie unbestimmte Schmerzen in der Wirbelsäule. Dann waren die Knochen nach und nach dünn geworden und veränderten ihre Form, die Wirbelknochen wurden krumm, die Beckenknochen platt, die Arm und Beinknochen schrumpften zusammen, und so war sie wie zusammengeschmolzen zu einem kleinen Stückchen Mensch, das man nicht aufrecht setzen konnte, das man nur mit aller erdenklichen Sorgfalt transportieren durfte in der stetigen Angst, es durch die Finger entschlüpfen zu sehen. Der Kopf, der regungslos dalag, bewahrte seine Schönheit. Und diesen beklagenswerten Rest von einer Frau umgab ein verschwenderischer Luxus, der dem Beschauer das Herz noch mehr bedrückte: ihre Tragbahre war mit blauer Seide gepolstert, sie selbst war eingehüllt in kostbare Spitzen. Der Reichtum breitete sich noch über das Totenbett aus.

      »Oh, welch ein Jammer!« begann der Abbé Judaine von neuem mit leiser Stimme, »sich sagen zu müssen, daß sie noch so jung, daß sie so reizend und so ungeheuer reich ist! Und wenn Sie wüßten, wie man sie liebt, mit welcher Verehrung man sie noch jetzt umgibt ... Der vornehme Herr, der bei ihr steht, ist ihr Gemahl, und dort die elegante Dame ist Frau Jousseur, ihre Schwester.«

      Pierre erinnerte sich, den Namen der Frau Jousseur in den Zeitungen gelesen zu haben. Sie war die Gattin eines Diplomaten und spielte eine große Rolle in der vornehmen katholischen Welt in Paris. Sie war sehr hübsch, mit einer wunderbaren Einfachheit gekleidet und um ihre arme Schwester mit dem Ausdrucke der hingehendsten Aufopferung beschäftigt. Der Gatte, der vor kurzem das große Bankhaus seines Vaters geerbt hatte, war ein schöner, mit peinlicher Sorgfalt gekleideter Mann von fünfunddreißig Jahren, mit hellem Teint. Seine Augen schwammen in Tränen, denn er liebte seine Frau abgöttisch und hatte alle seine Geschäfte im Stich gelassen, da er seine Frau durchaus selbst hatte nach Lourdes bringen wollen. In diesen Anruf der göttlichen Barmherzigkeit setzte er seine letzte Hoffnung.

      Pierre hatte viele entsetzliche Leiden gesehen in diesem schmerzensreichen weißen Zuge. Aber nichts erschütterte ihn so wie dieses jammervolle Frauenskelett, das sich mitten in seinen Spitzen und seinen Millionen auflöste.

      »Die Unglückliche!« flüsterte er zusammenschaudernd.

      Den Abbé Judaine überkam eine Freudigkeit himmlischer Hoffnung. Er sagte vertrauensvoll:

      »Die Heilige Jungfrau