Emile Zola

Lourdes


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die fest aufeinander gepreßten Zähne einzuflößen. Dieser stieß einen Seufzer aus, hob die Augenlider langsam in die Höhe und ließ sie gleich wieder niederfallen. Dies war alles, sonst gab er kein anderes Lebenszeichen.

      Schwester Hyacinthe, die so gefaßt war und niemals in Verzweiflung geriet, wurde ungeduldig.

      »Das ist schrecklich, und Schwester Claire des Anges kommt auch gar nicht zurück! Ich habe ihr doch ganz genau den Wagen des Paters Massias bezeichnet ... Mein Gott! was sollen wir nur machen?«

      Schwester SaintFrançois schickte sich an, in ihren Küchenwagen zurückzukehren, da sie sah, daß sie hier unnötig war. Vorher fragte sie jedoch, ob der Kranke nicht vielleicht nur vor Hunger stürbe. Das käme vor, und sie wäre nur hierhergekommen, um ihre Vorräte anzubieten. Als sie fortging, versprach sie, Schwester Claire des Anges zur Eile antreiben zu wollen, wenn sie ihr zufällig begegnen würde. Sie war noch nicht zwanzig Meter weit entfernt, als sie sich umdrehte und mit der Hand auf die Schwester wies, die mit kleinen und geräuschlosen Schritten zurückkehrte.

      An die Tür gelehnt rief Schwester Hyacinthe mit verstärkter, hastiger Stimme:

      »So beeilen Sie sich doch! So beeilen Sie sich doch ... Nun, und Pater Massias?«

      »Er ist nicht da!«

      »Wie? Er ist nicht da?«

      »Nein. Man kann unmöglich vorwärtskommen durch die Menschenmasse. Als ich endlich den Wagen erreichte, war Pater Massias schon ausgestiegen und vom Bahnhof weggegangen.«

      Der Pater müsse, wie man ihr erzählt habe, eine Zusammenkunft mit dem Kurat von SainteRadegonde verabredet haben. In den früheren Jahren hätte der nationale Pilgerzug hier einen Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden gehabt. Man hatte die Kranken in das Hospital in der Stadt gebracht und sich in Prozession nach SainteRadegonde begeben. Dieses Jahr wäre jedoch ein Hindernis eingetreten, der Zug führe direkt bis Lourdes. Der Pater wäre sicher dort und spräche mit dem Kuraten, mit dem er etwas zu verhandeln hätte.

      »Man hat mir versprochen, ihm den Auftrag auszurichten und ihn mit dem geweihten Öle herzuschicken, sobald man ihn finden würde.«

      Das war ein wirkliches Unglück für Schwester Hyacinthe. Da die Wissenschaft nicht helfen konnte, so hätte vielleicht das geweihte Öl dem Kranken Erleichterung verschafft. Sie hatte das schon oft gesehen.

      »Oh, liebe Schwester, liebe Schwester! Was habe ich für Kummer und Sorge ... Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein und noch einmal hingehen und auf den Pater Massias warten, damit Sie ihn mir gleich bringen können, wenn er zurückkommt?«

      »Ja, liebe Schwester«, antwortete Schwester Claire bereitwillig und machte sich mit ihrer ernsten, geheimnisvollen Miene wieder auf den Weg, indem sie sich geschmeidig durch die Menschenmenge wand.

      Ferrand war untröstlich darüber, daß er der Schwester Hyacinthe nicht die Freude bereiten konnte, ihn wieder zu beleben. Als er sein Unvermögen durch eine bedauernde Geste zu erkennen gab, bat sie flehentlich:

      »Bleiben Sie bei mir, Herr Ferrand, warten Sie, bis der Pater kommt ... Ich werde dann etwas ruhiger sein.«

      Er blieb, er half ihr den Mann wieder in die Höhe richten, wenn er von der Bank herunterrutschen wollte. Das Warten zog sich lange hinaus unter dem Unbehagen der in dem Wagen zurückgebliebenen Kranken und der Neugierde derjenigen, die sich draußen anzusammeln begannen.

      Ein junges Mädchen drängte lebhaft durch die Menge und wendete sich, auf das Trittbrett steigend, an Frau von Jonquière:

      »Warum kommst du denn nicht, Mama? Die Damen warten mit dem Essen auf dich.«

      Es war Raymonde von Jonquière. Schon etwas verblüht für ihre fünfundzwanzig Jahre, sah sie ihrer Mutter auffallend ähnlich mit ihrem dunklen Teint, ihrer kräftigen Nase, ihrem großen Munde und ihrer vollen, angenehmen Gestalt.

      »Wie du siehst, liebes Kind, kann ich diese arme Frau nicht verlassen.«

      Und sie zeigte auf die Grivotte, die wieder einen Hustenanfall hatte, der sie furchtbar mitnahm.

      »O Mama, das ist schade! Frau Desagneaux und Frau Volmar haben sich so sehr auf das kleine Frühstück zu vieren gefreut!«

      »Was willst du, mein armes Kind? Fangt nur immer ohne mich an ... Sage den Damen, daß ich mich, sobald ich könnte, hier losmachen und sie aufsuchen würde.«

      Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke.

      »Halt, dort ist ein Arzt! Ich will versuchen, ob ich ihm meine Kranke anvertrauen kann. Geh voraus, ich werde dir sofort folgen. Du weißt, daß ich fast vor Hunger sterbe!«

      Raymonde kehrte rasch ans Büfett zurück, während Frau von Jonquière Doktor Ferrand bat, zu ihr zu kommen und zuzusehen, ob er der Grivotte nicht etwas Erleichterung verschaffen könnte. Schon hatte er auf Marthas Wunsch den Bruder Isidor untersucht, dessen Stöhnen nicht aufhörte, und wiederum hatte er mit tiefbetrübter Miene sein Unvermögen zu helfen eingestehen müssen. Dennoch beeilte er sich, dem Rufe der Frau von Jonquière Folge zu leisten, richtete die Schwindsüchtige in die Höhe, da er wollte, daß sie aufrecht sitzen sollte, in der Hoffnung, den Husten dadurch etwas zu mildern, der auch allmählich nachließ. Dann half er Frau von Jonquière, der Kranken einen beruhigenden Trank einzuflößen. Die Anwesenheit des Arztes in dem Wagen fuhr fort, die Kranken aufzuregen. Herr Sabathier, der langsam die Weintraube verzehrte, die ihm seine Frau geholt hatte, befragte ihn nicht, da er die Antwort im voraus kannte und der Sache müde war, nachdem er schon, wie er sagte, alle Fürsten der Wissenschaft konsultiert hatte. Er fühlte jedoch ein gewisses Wohlbehagen, als er sah, wie der Arzt das arme Mädchen in die Höhe richtete, dessen Nachbarschaft ihn störte.

      Auf dem Perron wurde der Lärm und das Gedränge immer stärker. Man hatte nur noch eine Viertelstunde Aufenthalt. Wie unempfindlich, mit weitgeöffneten Augen und dennoch ohne etwas zu sehen, schläferte Frau Vêtu ihre Schmerzen in dem glühenden Brande der vollen Mittagsonne ein, während vor ihr mit immer gleichen wiegenden Schritten Frau Vincent ihre kleine Rose spazieren trug. Viele Leute liefen an den Brunnen, um ihre Trinkgefäße, Krüge und Flaschen zu füllen. Frau Maze, die sehr sauber und auf ihr Äußeres bedacht war, ging auch hin in der Absicht, sich die Hände zu waschen; als sie aber hinkam, traf sie Elise Rouquet dort, die gerade dort trank. Sie wich entsetzt zurück vor diesem Schreckbilde, vor diesem Hundskopfe mit dem zerfressenen Munde, an dessen Stelle ein schiefgezogenes Loch ihr entgegengähnte, aus dem die Zunge heraushing. Alle packte dasselbe Entsetzen, alle zauderten, ihre Flaschen, Krüge und Trinkgefäße aus demselben Brunnen zu füllen, aus dem sie getrunken hatte. Eine große Anzahl Pilger hatte sich den Perron entlang gelagert, um zu essen. Man vernahm das Klappern von Krücken, auf denen eine Frau mitten durch die verschiedenen Gruppen hindurch ruhelos hin und her stelzte. Dieses ganze Heer von Kranken, dieses rollende Hospital, das für eine einzige halbe Stunde sich geleert hatte, atmete mitten unter dem unaufhörlichen Auf und Ab der Gesunden in dem vollen Mittagssonnenschein frische Luft.

      Pierre verließ Marie nicht, denn Herr von Guersaint war verschwunden, angelockt von dem grünen Fleckchen Erde, das man am Ende des Bahnhofs wahrnahm. Der junge Priester bemühte sich mit lächelnder Miene, als er mit Besorgnis sah, daß sie die Bouillon nicht austrank, den Appetit der Kranken zu erregen, indem er sich erbot, einen Pfirsich zu kaufen. Aber sie dankte; sie litt zu sehr, nichts machte ihr Vergnügen. Sie sah ihn mit ihren großen, traurigen Augen an, hin und her schwankend zwischen ihrer Ungeduld über diesen Aufenthalt, der ihre Heilung so lange verzögerte, und ihrer Angst vor der qualvollen, endlosen Eisenbahnfahrt.

      Ein dicker Herr trat heran und berührte Pierres Arm. Sein Haar war ergraut; er trug einen Vollbart, und sein breites Gesicht hatte einen väterlich besorgten Ausdruck.

      »Verzeihung, Herr Abbé, befindet sich nicht in diesem Wagen ein Kranker, der mit dem Tode ringt?«

      Und als der Priester bejahend antwortete, wurde er sofort sehr freundschaftlich und vertraut.

      »Ich heiße Vigneron, bin Abteilungsleiter im Finanzministerium und habe meinen Abschied erbeten, um mit meiner Frau meinen Sohn Gustave nach Lourdes zu begleiten ... Das