spürte sie, wie etwas Spitzes in ihre Armbeuge piekste. Fast augenblicklich verebbte der Schmerz.
Wieder Dunkelheit.
Wieder Stille.
Als Sabine erwachte, lag sie in einem Krankenbett. Der Vater saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und wimmerte. Sein Blick war zu Boden gerichtet, doch sie brauchte seine Tränen nicht zu sehen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist mit …?“ Ihre Stimme klang schwach und tonlos.
Dem Vater zersprang vor Kummer fast das Herz in der Brust. Nur langsam schaute er auf, als scheue er ihrem Blick.
„Was ist passiert? Was ist mit meinem Kind passiert?“
Er rang damit, nicht die Beherrschung zu verlieren. Seine Hände zitterten wie die eines Drogensüchtigen, der unbedingt einen neuen Schuss braucht, und sein Gesicht war bleich wie die Wand. Sein Körper verkrampfte sich, als er endlich antwortete.
„Die … die Ärzte sagen, es geht dir bald besser. In ein paar Tagen kannst du das Krankenhaus verlassen. Sie wollen nur noch ein paar Tests machen. Alles Routine, kein Grund zur Sorge.“
Seine Augen waren ausdruckslos, schwarz wie Höhleneingänge.
„Daddy“, sie hatte Mühe, ihre Stimme nicht zu erheben. Sie schaffte es, nach Aufbietung ihrer gesamten Kraft, ruhig und gefasst zu klingen. „Was ist passiert? Sag mir, was mit meinem Kind passiert ist!“
Ihre Augen bohrten sich in seine. Ihr Blick war wie ein Dolch, der in seine Netzhaut stach und schmerzte wie Feuer. Lange würde er ihm nicht standhalten können. Er konnte ihr nicht ausweichen. Ihre Augen, ihre Körperhaltung sprach eine nur zu deutliche Sprache. Sie schien bereits zu wissen, was geschehen war und wartete nur noch darauf, dass er es bestätigte.
Seine Hand suchte ihre. Sie war eiskalt, aber gleichzeitig nassgeschwitzt. Sie drückte ihre heftig.
„Habe ich mein Baby verloren?“
Der Vater war wie versteinert. Die ganze Zeit über hatte er nach Worten gesucht, falls es die überhaupt gab, hatte verzweifelt versucht, drumherum zu reden, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, ihre Konzentration auf anderes zu richten. Hatte er auch nur einen Augenblick geglaubt, sein Plan könne aufgehen?
Sabine wartete zwei Sekunden und fragte noch einmal.
„Habe ich mein Baby verloren? Sag es mir! Bitte! Wenn es so ist“, sie musste schlucken, denn die Endgültigkeit, die in dem Satz mitschwang, ließ fast ihre Stimme versagen, „wenn es so ist, will ich es aus deinem Mund hören und nicht von einem wildfremden Arzt, der mich mit trostlosen Augen anstarrt und dabei Mitleid heuchelt. Das könnte ich nicht verkraften. Jetzt nicht, und auch später nicht. Nie! Hörst du, nie! Also sage es mir bitte!“
„Es … es … es … es hatte einen Herzfehler.“
„Ist mein Baby gestorben?“
Ihre Stimme war jetzt gar keine Stimme mehr, nur noch ein Krächzen und Fiepen.
„Sie sagen, es ging so schnell, dass sie nichts gespürt hat.“
Da war er wieder, dieser Satz: Es ging so schnell. Wie sehr sie ihn hasste! Gab es einen abartigeren Satz in der menschlichen Sprache? Nein, nie und nimmer!
„Oh nein, nein, nein! Das stimmt nicht! Das kann nicht stimmen! Du erlaubst dir einen makabren Scherz, oder? Es stimmt nicht, nicht wahr? Sag mir, dass es nicht wahr ist! Sofort! Sie war doch noch nicht einmal geboren, wie soll sie da schon gestorben sein? Es ist nicht wahr! Es darf einfach nicht wahr sein!“
Mit diesen Worten fiel sie zurück in ihre Kissen.
Es schmerzte ihn, seine Tochter so leiden sehen zu müssen. Es tat ihm in der Seele weh. Aber er musste ihr die Wahrheit sagen. Er musste es tun, damit sie irgendwann loslassen und trauern konnte. Er wusste, wie wichtig Trauer war – erst recht, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. Er wusste, dass er das Richtige getan hatte – und doch hasste er sich in diesem Moment dafür. Er wusste, dass dieses Gefühl ihn nun eine Weile nicht mehr loslassen würde.
„Es ist wahr, leider.“
Nun konnte auch der Vater seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie klammerten sich aneinander, schmiegten sich in die Arme des anderen und versuchten, einander ein wenig Trost zu spenden.
„Ich wollte doch noch so viel mit ihr unternehmen“, brachte sie stöhnend heraus, „sogar einen Namen hatte ich schon für sie: Sarah Gil!“
„Sarah Gil“, wiederholte der Vater. „Davon hast du mir gar nichts gesagt. Ein schöner Name. Bedeutet er etwas?“
„Ich weiß nicht. Aber er klingt nach etwas Besonderem, und weil mein Kind etwas Besonderes für mich ist, wollte ich ihm einen besonderen Namen geben.“
„Das verstehe ich.“
Sie saßen wortlos einander gegenüber. Jeder kämpfte mit Trauer und Wut. Irgendwie mussten sie beide damit fertig werden, dass der Tod schon wieder in ihr Leben gedrungen war, er schon wieder etwas unendliches Wertvolles zerstört hatte.
„Sabine, ich muss dir etwas über unsere Familie erzählen. Etwas, das schlimm und schrecklich ist, das aber mit der Zeit zu einem Teil von uns wurde. Wir, das heißt, du und ich …“
„Daddy, würde es dir etwas ausmachen, mich allein zu lassen? Ich brauche Zeit für mich. Sei mir bitte nicht böse. Ich will einfach allein sein. Bitte fahr jetzt nach Hause. Und mach dir um mich keine Sorgen, ich komme schon klar.“
„Bist du sicher?“
„Ja, das bin ich.“
„Kann ich dich morgen sehen?“
„Ich ruf dich an, wenn du wieder kommen kannst. Ja? Geh jetzt bitte. Und sei mir nicht böse.“
Sie dachte jetzt zurück an jenes Gespräch, während sie auf den Klippen stand und auf das weite, dunkle Meer sah. Inzwischen wehte ein schwacher Wind, der ihr Haar ausgelassen tanzen ließ.
Weit draußen am Horizont verschwand gemächlich ein Schiff. Ein gespenstischer Anblick; man mochte wirklich glauben, es würde langsam in die Tiefe gezogen.
Sabine fröstelte. Das Wetter hatte merklich umgeschlagen, doch das geschah in diesen Breiten öfter. Aus dem Sonnenschein war raueres Wetter geworden. Die Sonne versteckte sich hinter einer Armee von Wolken, und auch der Wind wurde stürmischer.
Ihr Vater hatte ihr an diesem Tag etwas Wichtiges sagen wollen, und seine Miene dabei hatte ihr keineswegs gefallen, hatte ihr sogar Angst gemacht. Die Falten in seinem Gesicht schienen plötzlich tiefer und zerfurchter, seine Augen blitzten dunkel, und seine Mundwinkel zitterten, als weigerten sie sich, etwas Dunkles preiszugeben.
Noch nicht.
Paul streckte sich auf dem Stuhl aus, bis seine Knochen knackten. Für heute sollte es genug sein. Er hatte zwar noch nicht sein altes Tagespensum geschafft, aber als erfahrener Schriftsteller wusste er, wann sein Pulver verschossen war. Er trank den inzwischen kalt gewordenen Kaffee, speicherte den Text und verließ das Arbeitszimmer.
Wie jedes Mal, wenn er geschrieben hatte, fühlte er sich wunderbar. Es war wie eine Sucht. Er brauchte es einfach, dieses Ringen um jeden Buchstaben, um jedes Wort, das Zusammensetzen der scheinbar aus dem Nichts kommenden Sätze und das Gefühl, durch neue, unbekannte Gefilde zu streifen. Wenn er Blatt um Blatt beschrieb, der Text langsam Form annahm, dann fühlte er sich so richtig glücklich. Dann war er zufrieden mit sich und der Welt.
Im Wohnzimmer warf