Lars Burkart

Die letzte Seele


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      „Oh Mann. Vergiss es! Bist heut nicht auf dem Damm, was?“

      „Sie hatte … sie hatte einen Unfall“, platzte es endlich aus Jerome heraus.

      Pauls Miene wurde schlagartig ernst. Jegliche Fröhlichkeit war aus ihr gewichen. Ein Unfall? Unmöglich, ging es ihm durch den Kopf. Patrizia fuhr immer vorbildlich. Sie setzte sogar den Blinker, wenn sie in die Garage fuhr. Ihr musste jemand reingerauscht sein …

      „Wenn ich das geahnt hätte! Sorry. Wie geht es ihr? Geht es ihr gut?“ Paul war erschüttert. „Bestell ihr liebe Grüße und gute Besserung von mir, ja?“

      „Mit Patrizia ist alles in bester Ordnung. Ich spreche von Jeannine.“

      „Was …?“

      „Einen Motorradunfall. Es ist …“

      „Stopp mal, ja? Du verarscht mich! Wie kann sie mit einem Motorrad einen Unfall bauen, wenn sie gar keinen Führerschein dafür hat? Erklär mir das mal!“

      Während er das sagte, rannen ihm bereits Tränen die Wangen hinunter. Seine Frau hatte einen Unfall. Schon bei diesem Gedanken begann er am ganzen Körper zu zittern. Sein Magen krampfte sich zusammen und fühlte sich an, als hätte er glühende Kohlen geschluckt. Seine Knie knickten ein, und er sackte nach hinten weg. Zum Glück stand dort ein Sessel. Reglos blieb er sitzen, während seine Gesichtsfarbe ins Aschgraue überging. Ihm war plötzlich speiübel, und am liebsten hätte er sich die Gedärme aus dem Leib gekotzt.

      „Wie … wie ist das passiert?“

      „Man weiß noch nichts Genaues. Nur so viel ist sicher: Sie hat wahnsinniges Schwein gehabt. Das Motorrad …“

      „Ich verstehe das nicht! Wie konnte das nur passieren?“ Pauls Stimme bebte.

      „Es ist eben geschehen. Ein unachtsamer Augenblick, und …“

      „Nein, das meine ich nicht! Wie kommt sie bitteschön zu einem Motorrad? Das kapier ich nicht, beim besten Willen nicht!“ Hilfesuchend und mit tränenüberfluteten Augen sah er Jerome an.

      Jerome wich seinem Blick aus. Dieser Bastard wich einfach seinem Blick aus und setzte an einer anderen Stelle wieder an.

      „Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie hat keine ernsthaften Verletzungen davongetragen. Ein paar Prellungen, jede Menge Hautabschürfungen und reichlich blaue Flecken und einen abgebrochenen Fingernagel, hat sie gesagt.“

      „Hat sie dir gesagt?“

      „Nein, verdammt, sie hat Patrizia angerufen!“

      Vor Überraschung klappte Paul die Kinnlade runter und er vergaß glatt zu fragen, wie zum Teufel sie auf ein Motorrad kam. Das musste er erstmal verdauen. Sie hat Patrizia angerufen. Mann, das tat verdammt weh. Sicher, sie waren so gut wie getrennt. Aber sie waren es eben noch nicht ganz. Warum zum Kuckuck kann sie mich nicht selbst anrufen? Warum muss ich das von anderen erfahren? Und was ist mit den Kindern?

      „In welchem Krankenhaus liegt sie?“

      „Tut mir leid. Das darf ich dir nicht sagen.“

      „Was? Warum denn das nicht?“

      „Sie will es nicht. So einfach ist das.“

      „Ach, sie will es also nicht! Was will sie denn, wenn ich mal fragen darf?“

      „Langsam, langsam, Paul! Ich bin nur der Bote. Ich weiß ja, dass du verletzt bist. Ich kann das sehr gut nachempfinden …“

      „Das kannst du, ja?“

      „… Ich bin hier als dein Freund …“

      „Soll ich lachen?“

      „… und als ein solcher spreche ich zu dir …“

      „Verpiss dich!“

      „Ich soll dir von ihr ausrichten, dass die Kinder bereits auf den Weg nach Australien sind. Und bis auf weiteres bei den Großeltern bleiben.“

      Jeannines Eltern waren vor ein paar Jahren nach Australien ausgewandert. Gleich nachdem sie in den Ruhestand gegangen waren. Irgendwo inmitten der Pampa, wie er immer treffend bemerkt hatte. Mehr als dreihundert Meilen von der nächstgrößeren Stadt entfernt. Und dort wollte sie allen Ernstes die Kinder lassen?

      Autsch, das versetzte ihm gleich noch einen Schlag. Seine gute Laune war vollends verschwunden, und er hatte die finsterste Leichenbittermiene aufgesetzt, die er zustande brachte. Dass sie ihm die Kinder weggenommen hatte, war ihr nicht genug, nein, sie wollte sie auch lieber den Eltern übergeben als ihm, ihrem Vater! Was war er denn? Ein Stück Dreck, das man einfach vom Schuh wischen konnte? Ja, er hatte viele Fehler während seiner Ehe gemacht, das war ihm jetzt klar. Aber er hatte den Kindern nie etwas Böses getan. Er hatte sie geliebt, mehr als …

      Paul stotterte: „Ins Flugzeug … nach Australien … zu den Großeltern?“

      Jerome wollte etwas erwidern, aber was er auch sagte, es würde falsch sein.

      „Tut mir leid, dass du es von mir erfahren musstest. Anscheinend will sie keinen Kontakt mehr zu dir.“

      „Das habe ich erwartet, und ich muss zugeben, dass es mir vollkommen egal ist.“ Erstaunlicherweise stimmte das sogar. „Was schmerzt, ist, dass sie Benny und Stefanie die Strapazen einer solchen Reise zumutet! Und dann auch noch allein! Gottverdammt, sie benimmt sich gerade so, als müssten sie vor mir beschützt werden! Als würde ich ihnen was Böses wollen!“

      „Das bildest du dir nur ein.“ Bestimmt ein gutgemeinter Einwand, aber er trieb Paul nur noch mehr auf die Palme.

      „Schwachsinn! Von wegen, ich bilde mir das nur ein! Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock, was hier gespielt wird! Sie will, dass die Kinder sich von mir abwenden, dass sie sich von ihrem eigenen Vater abwenden! Ich hätte nie gedacht, dass sie zu so was fähig ist. Ich liebe meine Kinder. Ich liebe sie über alles. Ich habe sie nie missbraucht, nie geschlagen oder sonst was mit ihnen angestellt. Ich hab sie immer gut behandelt und war ihnen immer ein guter Vater. Das ist pure Rache, das weiß ich! Sie weiß, wie weh mir das tut, wie ich an den beiden hänge und jetzt versucht sie, sie mir zu entfremden. Dieses Aas! Dieses verdammte, hinterfotzige Aas!“

      „Sachte, sachte! Nun beruhige dich doch erstmal!“ Jerome wollte beschwichtigend auf ihn zugehen, doch noch ehe er einen Schritt machen konnte, bellte Paul wieder los.

      „Wie soll ich mich da beruhigen, hä? Du hast gut reden! Deine Kinder sollen ja nicht ans andere Ende der Welt!“ Paul sprang vom Sessel. Er hatte eine Wut im Bauch, als könnte er explodieren. In seinen Mundwinkeln sammelte sich Schaum wie bei einem tollwütigen Hund. Mit voller Wucht trat er gegen den Fernseher, bis die Bildröhre implodierte. Er war so in Rage, dass er davon nichts bemerkte. Wie konnte sie das nur tun? Wie konnte sie ihm das antun? In seiner Wut zertrümmerte er nicht nur den Fernseher, sondern auch die Stereoanlage, die er erst vor kurzem mühevoll wieder aufgerichtet hatte.

      Allmählich bekam Jerome es mit der Angst zu tun. Er hatte Paul noch nie so gesehen. Besorgt fragte er sich, ob er alles hier drinnen demolieren würde. Obwohl sein Verhalten ihm unheimlich war, verstand er ihn. Auf irgendeine Art verstand er ihn sogar gut. Wahrscheinlich lag das daran, dass er genauso reagiert hätte, wäre er an seiner Stelle gewesen.

      Schließlich legte Jerome sein Unbehagen ab und näherte sich ihm. Er sah, dass Paul Tränen in den Augen standen und er am ganzen Körper zitterte. Vorsichtig legte er die Hand auf seine Schulter. Auch sie zitterte. Offenbar fürchtete er einen tätlichen Angriff. Und das lag durchaus im Bereich des Möglichen, schließlich waren schon aus weit weniger gewichtigen Gründen Schlägereien entstanden.

      Paul beäugte alles argwöhnisch, ließ es aber ohne Gegenwehr geschehen. Er war sich noch immer nicht sicher, was er von alledem halten sollte. Noch vor wenigen Sekunden war er wie ein junger Hund ausgelassen durch den Garten getobt, hatte sich wie eine Wildsau im Dreck gesuhlt, und nur Augenblicke später, war er wieder am Boden zerstört. Schluchzend ließ er sich fallen und flennte wild drauflos.