Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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den siebziger Jahren verbreiteten Horrorszenarien betrachten, wonach Marihuana die Ausschüttung des Sexualhormone bei Männern und Frauen beeinträchtige, das Immunsystem erheblich schädige,[303] oder als Einstiegsdroge fungiere.[304] Diese sog. Step-Stone-Theorie ist für sich schon gesehen unergiebig, da sie nur denjenigen Teil betrifft, der überhaupt auf härtere Drogen umgestiegen ist; hier ist aber die Feststellung, ob Cannabis allein verantwortlich für diese Entwicklung war, das geringste Problem. Das Hervorrufen des Amotivations-Syndroms[305], Auswirkungen auf die Psyche überhaupt[306] oder die These von der Ursächlichkeit des Cannabiskonsums für Psychosen und Schizophrenie[307] ließen sich ebenfalls nicht bestätigen (andere Studien stellen gerade aufgrund der fehlenden Evidenz die Vermutung auf, dass der Grund für den Cannabiskonsum eine bereits bestehende Psychose bzw. genetisch angelegt sein kann[308]). Während mangels Nachweises klassischer Symptome (insbesondere Toleranzentwicklung) eine physiologische Abhängigkeit nach den ICD bzw. DSM-Kategorien eindeutig nicht bejaht werden kann,[309] geht man überwiegend von einer psychischen Abhängigkeitswirkung aus.[310]

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      Damit lässt sich festhalten, dass die bisherigen Forschungsergebnisse ausreichen, um Cannabis als „gesundheitsschädlich“ zu bezeichnen, aber auch nicht mehr. Eine endgültige Festlegung ist weder zu erwarten (in Anbetracht des Umstands, dass die Frage durch das Aufkommen der Frage auf dem rechtspolitischen Tableau „ausgeschlachtet“ wurde), noch zielführend im Hinblick auf die geführte Debatte, zumal eine erhöhte Gefährlichkeit schon wegen des (in der überwiegenden Bevölkerung noch funktionierenden) Selbstschutzmechanismus einer Verbreitung der Droge eher entgegenwirken dürfte. Das spricht dafür, etwaige Feldversuche u.a. in dem Gesetzesentwurf von Böllinger/Ambos u.a. angestimmt werden,[319] zuzulassen. Darüber hinaus muss man sich losgelöst von empirischen Fallstudien und der konkreten Einordnung der Droge die wichtige Frage stellen, welchen Gefährlichkeitsgrad bzw. welches Schädigungspotenzial die Droge überhaupt aufweisen müsste, um solch ein umfassendes Verbot zu legitimieren. Denn auch Alkohol lässt sich als „gefährliche Droge“ bezeichnen. Mit anderen Worten: Man muss sich über den Maßstab verständigen, der das Totalverbot legitimiert. Was soll entscheidend sein: Bestimmte Symptome? Die akute Rauschwirkung? Das physiologische oder psychische Abhängigkeitspotential? Die kulturelle Akzeptanz der Droge[320] oder alle Faktoren kumulativ? Gerade die stetige Gegenüberstellung der Drogenprohibition einerseits und des legalen Alkohols andererseits hat den Blick für diese Frage etwas verstellt, müsste sie doch eigentlich gerade zu dieser führen.

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      Unabhängig von der Gefährlichkeit des einzelnen Wirkstoffs ist die „Geeignetheit“ einer Prohibition als Schutzmaßnahme vor gefährlichen Substanzen auch deswegen in Frage gestellt, weil der Staat den Konsumenten faktisch sich selbst überlässt, mangels geprüfter „Qualitätsware“ wie sie bei legalen Drogen gewährleistet ist, der faktisch existente Konsument also der Gefahr unreiner, minderwertiger Produkte ausgesetzt wird. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass Betäubungsmittel „von Natur aus gefährlich“ sind und der Staat dies durch das Verbot zum Ausdruck bringt.[321] Damit würde man der hier bereits mehrfach betonten Unterschiede zwischen den einzelnen Stoffen untereinander überhaupt nicht gerecht; der Staat muss fähig sein, die Gefährlichkeit der einzelnen Drogen dem Konsumenten differenziert zu vermitteln und gerade nicht in ihren Wirkweisen und Konsum Arten vollkommen unterschiedliche Substanzen über einen Kamm zu scheren (vgl. bereits Rn. 38). Zwar ist es zutreffend, dass der Konsument eine erste Gefährlichkeitsprognose anhand des Verbots vornimmt. Doch zum einen kann dieses Vertrauen des Gesetzgebers durch eigenes Probieren oder durch Erfahrungen in der Umwelt erschüttert werden. Zum anderen hat der Staat in diesem Zusammenhang auch zahlreiche andere Möglichkeiten, auf das Gefährdungspotential der im Umlauf befindlichen Drogen hinzuweisen (Aufklärungsarbeit und sonstige Präventionsprogramme, wie dies bei Tabak oder Alkohol bereits erste Früchte zeigt).

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      Noch deutlicher tritt die Bedeutung eines nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsmaßstabs bei den überindividuellen Rechtsgütern zu Tage, etwa beim Jugendschutz, der aus einer Gesamtschau von allgemeinem Persönlichkeitsrecht, elterlicher Sorge und dem Gesetzesvorbehalt zum Schutze der Jugend in Art. 5 Abs. 2 GG abgeleitet wird. Man wird bereits danach fragen müssen, ob der Jugendschutz als „Stellvertreterschutz“ des Selbstbestimmungsrechts zu verstehen ist und damit jede potentiell unverantwortlich agierende Person hierunter fällt.[322] Mithin sind vor allem Maßnahmen erfasst, die den schutzlos gestellten (weil unverantwortlich agierenden) Jugendlichen vor schädlichen Einwirkungen bewahren sollen. Das Verbot einer Substanz wie Cannabis, deren Konsum vor allem im Jugendalter bleibende Schäden hinterlassen kann, lässt sich durchaus als solch eine Maßnahme verstehen. Damit verlagert man allerdings die Frage nur auf die Ebene der Erforderlichkeit, wo man zum Ergebnis gelangen muss, dass eine Beschränkung des Verbotes auf Minderjährige gleich effektiv, aber weniger freiheitsbeschränkend für Erwachsene ist. Dem wird häufig entgegengehalten, dass die freie faktische Verfügbarkeit eine andere Marktsituation und damit auch eine leichtere Zugänglichkeit für Jugendliche generiert.[323] Mit dieser Argumentation entzieht man aber dem Jugendschutz als verfassungsrechtlichen Belang die Grundlage, weil man davon ausgeht, dass die Verbotswirkung allein für Minderjährige gar keine Wirkung entfaltet;[324] anders gewendet: um Jugendschutz herzustellen, wäre damit stets auch Erwachsenenschutz erforderlich (was freilich bei legalen Drogen wie Alkohol und Nikotin keine Rolle spielen soll).

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      Es ist auch nicht gesichert, dass infolge einer kontrollierten Freigabe für Erwachsene der Konsum durch Jugendliche „absehbar ansteigt“.[325] Abgesehen davon, dass man im Bereich der Tabak- und Alkoholprävention erste Erfolge erzielt (und man diesen Möglichkeiten bei solch einer Prognose die Wirksamkeit a priori abspricht), belegen zahlreiche Realexperimente bzw. Befunde, dass eine Legalisierung bzw. Entkriminalisierung nicht zwingend zu einem Anstieg des Drogenkonsums führen muss.[326] Besonders deutlich wird dies in Ländern,[327] die ursprünglich eine repressive Drogenpolitik pflegten (so ist die Lebenszeitprävalenzrate in Portugal nach der Entkriminalisierung im Allgemeinen gesunken;[328] hingegen hat die Zahl der Verkehrsunfälle unter Einfluss von Marihuana zugenommen[329]). Zudem ändert die Verfügbarkeit schließlich nichts daran, dass der Cannabiskonsum bei Jugendlichen überwiegend episodenhaften Charakter hat.[330] Zuletzt wird darauf hingewiesen, dass die Einführung einer Altersgrenze eine Verschiebung der Zielgruppe des illegalen Marktes bewirken könnte.[331] Dies mag zutreffen, doch darf hierbei nicht aus dem Blick geraten, dass es sich um eine wesentlich kleinere Zielgruppe handelt und es auch wesentlich schwieriger sein dürfte, diese „unentdeckt“