Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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bereits rechtskräftig wegen (irgend)einer Straftat verurteilt worden sein (während dem Rechtsmittelverfahren kann ein Antrag nach § 35 BtMG also allenfalls vorbereitet, nicht jedoch gestellt werden[242]). Soweit es sich um eine zurückstellungsfähige Rechtsfolge handelt (hierzu zählen Freiheits- und Jugendstrafen, deren Obergrenze zwei Jahre nicht übersteigt, vgl. bei Gesamtstrafen auch § 35 Abs. 3 Nr. 2 BtMG[243]), kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszugs die Vollstreckung zurückstellen, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt oder sonst feststeht, dass der Verurteilte die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat.

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      Die Frage einer Abhängigkeit (die man im Wesentlichen an den vier Kriterien des unbezwingbaren Verlangens, der Tendenz zur Dosissteigerung, der seelischen oder körperlichen Abhängigkeit und den schädlichen Auswirkungen für das Individuum misst) hat das Gericht unter Hinzuziehung eines Gutachters unabhängig von § 35 BtMG zu klären, da sich die Abhängigkeit bereits auf die Strafzumessung auswirken kann. Meist bereitet auch weniger die Abhängigkeit als solche Schwierigkeiten, als vielmehr die Feststellung einer Kausalität dieser für die Begehung der Straftat (Wortlaut „aufgrund“).[244] Der Vollstreckungsbehörde steht allerdings ein (nur eingeschränkt überprüfbarer) Ermessensspielraum hinsichtlich der Zurückstellung und damit auch hinsichtlich der Annahme eines Ursachenzusammenhangs zu. Die Mitursächlichkeit der Abhängigkeit muss allerdings in den Urteilsgründen angedeutet sein oder anderweitig festgestellt werden. Eben dieser Aspekt ist nicht selten der einzige Anknüpfungspunkt im Rahmen eines entsprechenden Rechtsbehelfs nach den §§ 23 ff. EGGVG (infolge einer verweigerten Zurückstellungsentscheidung).

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      Ist eine Kausalität festgestellt, muss sich der Verurteilte für eine Zurückstellungsentscheidung bereits in einer Rehabilitationsbehandlung befinden bzw. deren Beginn muss gewährleistet sein. Die Ablehnung der Zurückstellung der Strafvollstreckung kann also – um missbräuchliche Antragstellungen auszuscheiden und die begrenzte Anzahl kostspieliger Therapieplätze ernsthaft therapiewilligen Patienten vorzubehalten – grundsätzlich auch auf den fehlenden Therapiewillen bzw. die fehlende Therapiebereitschaft eines Verurteilten gestützt werden. Dies deutet bereits der Wortlaut des § 35 BtMG an, der die Zurückstellung von der Zusage des Verurteilten abhängig macht.[245] Doch dürfen an die Feststellung der Therapiewilligkeit ebenso wie an diejenige der Therapiefähigkeit keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden. „Grundsätzlich ausreichend ist die ernsthafte Bereitschaft, die Therapie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer geeigneten Einrichtung nach den dort geltenden Regeln, Anweisungen und Bedingungen anzutreten und durchzustehen, um eine bestehende Drogenabhängigkeit zu beseitigen, und an diesem Ziel aktiv mitzuarbeiten.“[246]

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      Die Zurückstellung erfolgt auf Antrag des Verurteilten. Nach Zustimmung des Gerichts (es handelt sich um eine Prozesserklärung, nicht um eine Sachentscheidung, d.h. die Ablehnung der Zustimmung ist mit der Beschwerde anzufechten), entscheidet die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde (§ 451 StPO) über die Zurückstellung.[247] Dabei können unterschiedliche Kriterien (Therapiebereitschaft und -fähigkeit, Verwahrlosung, „kalter Entzug“, drohende Abschiebung) im Rahmen der Ermessensentscheidung herangezogen werden, welche nur eingeschränkt überprüfbar ist.[248]

D. Verfassungsrechtlicher Rahmen und Rechtsgutsdiskussion (Legitimität und Zweckmäßigkeit)

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      Das Verbot mit Betäubungsmitteln umzugehen, das zudem (neben anderen strafbewehrten Verhaltensweisen) an die Kriminalstrafe knüpft, stellt einen Eingriff in Grundrechte, insbesondere in die allgemeine Handlungsfreiheit, das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG (und gegebenenfalls auch sonstige Grundrechte wie die der Meinungs-, Kunst- und Berufsfreiheit, Art. 5 Abs. 1, Abs. 3, Art. 12 GG[249]) dar. Legitimiert wird der Eingriff mittels Kriminalstrafe nicht selten durch die objektiv-rechtliche Funktion von Grundrechten[250] (mithin derjenigen, die Bürger vor Eingriffen Dritter zu schützen). Dabei ist bereits umstritten, ob jene objektiv-rechtliche Dimension auch zu einer Pflicht des Staates führt, den Bürger auch vor sich selbst zu schützen,[251] sodass das Verbot und die daran knüpfende Sanktion bereits (aber nicht nur) aus diesem Grunde zwischen Händlern und Konsumenten differenzieren muss, auch wenn im Hinblick auf die „Wechselwirkung“ von Angebot und Nachfrage eine einheitliche Betrachtung naheliegend erscheint.

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      In der konkreten Diskussion sind die verfassungsrechtliche Einordnung und Bewertung des Cannabisverbotes bzw. der Prohibition im Allgemeinen eng mit den kriminalpolitischen Erwägungen auf der einen, den rechtsgutsbezogen-dogmatischen Überlegungen auf der anderen Seite verknüpft.[252] Gerade aus diesem Grund sollte der Grundsatzstreit um die Berechtigung und Funktion der Rechtsgutslehre neben einem Strafgesetzgebungsverfassungsrecht nicht überbewertet werden, da zahlreiche Erwägungen, die im Rahmen der Rechtsgutslehre für oder wider einer Legitimität der Strafnorm sprechen, in die verfassungsrechtliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Sanktionsnorm (legitimer Zweck – Geeignetheit – Erforderlichkeit – Angemessenheit) implementiert werden können und auch tatsächlich werden. Und gerade im Rahmen dieser Prüfung wird schnell deutlich, dass sich die Probleme der Rechtsgutslehre lediglich verlagern, man mithin mit ähnlichen Hürden zu kämpfen hat, die sich unter Zugrundelegung eines Rechtsguts als Legitimationspfeiler einer Strafnorm ergeben. Die Parallelen werden deutlich, wenn dem Rechtsgutsbegriff die Leistungsfähigkeit abgesprochen wird, da sich jeder Strafvorschrift ein Rechtsgut zuordnen lasse[253] (mithin der unscharfe Rechtsgutsbegriff jederzeit „funktionalisiert“ werden könne – diese Gefahr hat sich i.Ü. im Betäubungsmittelstrafrecht realisiert, vgl. noch im Folgenden), zugleich aber keine hohen Anforderungen an den Begriff des legitimen Zwecks gestellt werden (Rn. 111 f.).

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      Wenn zum anderen die normative Verbindlichkeit des Rechtsgüterschutzprinzips bestritten wird,[254] so steht dem die auf der Ebene der Geeignetheit über die Erforderlichkeit hin zur Angemessenheit der Strafvorschrift eingeräumte Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers gegenüber,[255] die als „maßstabsabschwächende Sonderdogmatik“[256] fast jedes Strafgesetz gegen verfassungsrechtliche Gegenerwägungen (und innerhalb des Tatsachenvorbringens empirisch und sozialwissenschaftlich abgesegnete Thesen) weitgehend immunisiert, soweit man von diesen nicht „überzeugt“ ist. Wie auch bei der Rechtsgutsdiskussion wird so aus einer „materiellen Legitimitätsprüfung“ eine Plausibilitätskontrolle, bei der andere Auffassungen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit sich kaum durchsetzen können, sondern auf der Ebene der Zweckmäßigkeit, also politisch (nämlich durch tragende und überzeugende Sachargumente) erkämpft werden müssen.

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      Schwächen des Rechtsgutskonzepts sind insofern meistens auch Schwächen der verfassungsrechtlichen Argumentation, die aber erst auf der kriminalpolitischen Ebene Gehör finden. Das hat die jüngere Rechtsprechung zur Verfassungsmäßigkeit von Strafgesetzen, aber auch der Cannabis-Beschluss des BVerfG im Jahre 1994 deutlich gemacht, in welchem – durch und durch pragmatisch – eine „Verfassungswidrigkeit“ der Praxis der Einstellung nach § 31a BtMG anklang,[257] aber das BtMG für verfassungsgemäß erklärt wurde, trotz (damals bereits, aber heute umso mehr) berechtigter Einwände