Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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vom Arzt in sein Kalkül einzubeziehender Vorgaben seine Eigenverantwortung schwächt und damit letztlich dem Wohl des Patienten zuwiderzulaufen droht.[103]

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      Gegen eine starre Gleichsetzung von Verstößen gegen die von der medizinischen Profession[104] gesetzten Richt- und Leitlinien mit einer Verfehlung des einzuhaltenden Standards bestehen ohnehin Bedenken,[105] da derartige Vorgaben nicht stets gesteigerten wissenschaftlich-methodischen Anforderungen genügen (bspw. fehlende oder zweifelhafte Evidenz ihrer Grundlagen, mitunter mangelhaftes Verfahren ihrer Erstellung, insbesondere bezüglich der Auswahl der Experten, ggf. fehlende Aktualität sowie mitunter Nichtbeachtung in der Praxis), von sich inhaltlich widersprechenden Leitlinien ganz zu schweigen. Die im medizinischen Binnenbereich gebräuchliche Unterscheidung von Leit- und Richtlinien[106] (sowie sonstigen Empfehlungen der BÄK oder medizinischer Fachgesellschaften) ist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit ohne Belang,[107] da es entscheidend auf die – in casu festzustellende – Verfehlung des Standards ohne Vorliegen einer diese Abweichung gestattenden oder gar gebietenden Ausnahmesituation ankommt. Mit den Worten des 6. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs: „Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten (w.N.).“[108] Derartige Vorgaben können nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers festzustellenden medizinischen Standard gleichgesetzt werden.[109] Sie können kein Sachverständigengutachten ersetzen und nicht unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden.[110]

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      An der nur indiziellen Funktion[111] von Richt- oder Leitlinien ändert auch die Einhaltung spezifischer Qualitätskriterien, die zur Beurteilung der jeweiligen Wertigkeit dieser Vorgaben entwickelt worden sind (namentlich die Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in sog. S1 bis S3-Richtlinien[112]) nichts.[113] Ungeachtet der durch das SGB V sowie das AMG erfolgenden Transformation der Ergebnisse evidenzbasierter Medizin in das Medizinrecht, entfalten ihre Ergebnisse auch dann, wenn sie Teil von sog. S3-Richtlinien geworden sind, keine Bindungswirkung i.S.e. Vorgabe eines Behandlungsfehlers.[114] Auch evidenzbasierte Leitlinien (S3-Status), die den fachlichen Standard auf einem breiteren Fundament als ein Sachverständiger im Prozess bestimmen,[115] lassen die Variationsbreite der möglichen ärztlichen Entscheidungen aufscheinen, so dass sie eher Koordinaten angeben, innerhalb derer sich die ärztliche Entscheidung bewegen sollte.[116] Schließlich ist darauf zu bestehen, dass auch die sozialrechtlich relevanten Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen (§ 91 SGB V) – ungeachtet der demokratischen Legitimation dieses Selbstverwaltungsträgers[117] – den ärztlichen Standard für das Zivil- und Strafrecht nicht verbindlich festzulegen vermögen.[118] Diese Richtlinien, denen durchaus Normqualität im rechtlichen Sinne zuzusprechen ist,[119] stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der Qualitätssicherungsaufgabe im GKV-Recht, das eine Art Zulassungsverfahren für ärztliche Behandlungen bereithält. Dieses wird durch die Richtlinien des Bundesausschusses (§§ 92 ff. SGB V), also etwa über die Richtlinien zu Verfahren und Maßnahmen der Qualitätssicherung sowohl im ambulanten (§§ 135 ff. SGB V) wie im stationären Bereich (§§ 137 ff. SGB V) bestimmt. Diese Richtlinien sind sozialrechtlich verbindlich und sanktionsbewehrt (Honorarkürzung oder -verlust). Sie haben formal nichts mit den innerprofessionellen medizinischen Leitlinien zu tun, können sich aber inhaltlich mit jenen decken. Weil diese Richtlinien speziell dem spezifisch sozialrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgebot zu dienen haben, können sie außerhalb dieses Rechtsgebietes keine Verbindlichkeit beanspruchen,[120] wenn dort – wie derzeit bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit – das Wirtschaftlichkeitsziel nicht ausdrücklich normiert ist.[121] Demgegenüber integrieren diese sozialrechtlich verbindlichen Richtlinien von vornherein das Ziel wirtschaftlicher Heilbehandlung und sind deshalb für die zivil- und strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung (Sorgfaltswidrigkeit), die sich am Schutz des Patienten orientiert, nicht vorgreiflich. Ohnehin kommt auch außerhalb des medizinischen Bereichs selbst Sondernormen mit Rechtssatzqualität (bspw. der StVO auf dem Gebiet des Straßenverkehrs) lediglich eine eingeschränkte, nur indizielle Bedeutung zu. Auch bei einem Verstoß gegen deren Vorgaben liegt eine Sorgfaltspflichtverletzung eben nur dann vor, wenn im Einzelfall gerade die vom Normgeber ins Auge gefasste Gefahrenlage vorlag. Umgekehrt vermag ihre Einhaltung sorgfaltswidriges Verhalten nur dann auszuschließen, sofern diese Sondernormen mit Rechtssatzqualität das erlaubte Risiko abschließend festlegen, sie also mehr als nur eine Mindestmaßangabe einzuhaltender Sorgfalt enthalten; auch darf im Einzelfall keine atypische Gefahrenlage, die abweichendes Verhalten gebietet, vorliegen.[122] Es gilt also stets das Richtige und nicht das „Vorschriftsmäßige“ zu tun.[123]

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      Kann im Einzelfall ein etwa bestehendes Nebeneinander sich widersprechender Leitlinien nicht im Sinne der Vorzugswürdigkeit einer Vorgabe ausgeräumt werden, so besteht eine arzthaftungsrechtliche Verpflichtung zur ärztlichen Aufklärung über Behandlungsalternativen: Immer dann, wenn die Medizin sich nicht auf eine Empfehlung verständigen kann, wird sich der Jurist dieser Situation beugen und auf die Steigerung der Aufklärungsanforderung auszuweichen haben.[124]

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      Sofern (zukünftig) einschlägige EU-Richtlinien bei der Auslegung der bundesdeutschen Fahrlässigkeitstatbestände nach dem Gebot unionsrechtskonformer Auslegung konkretisierend heranzuziehen sind, gilt Entsprechendes: Ein von einer entsprechenden Richtlinie gestattetes Verhalten darf zwar vom Ansatz her auch bei entgegenstehenden deutschen Sondernormen – unabhängig davon, ob sie staatlich gesetzt oder nichtstaatlich „erlassen“ worden sind – grundsätzlich nicht als sorgfaltswidrig angesehen werden.[125] Da aber bei der Bestimmung der Sorgfaltswidrigkeit derartigen Sondernormen nur indizielle Bedeutung zukommt, darf ein von einer entsprechenden EU-Richtlinie gedecktes Verhalten dann zur Begründung einer Sorgfaltswidrigkeit herangezogen werden, wenn eindeutig erkennbar ist, dass richtlinienkonformes Verhalten zu einer Schädigung Dritter führen könnte.[126] Angesichts der lediglich indiziellen Funktion einer Zuwiderhandlung gegen eine aus dem Europarecht herzuleitende Sondernorm begründet ein Verstoß gegen ihre Vorgaben umgekehrt nicht zwangsläufig den Vorwurf objektiver Fahrlässigkeit.[127]

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      Auch in Bezug auf Richt- und Leitlinien gilt – wie auch sonst bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit infolge eines Verstoßes gegen Sondernormen – der Grundsatz, dass die korrekte und gewissenhafte Erfüllung der auf den Inhalt rechtlicher Sorgfaltsanforderungen bezogenen Erkenntnisverschaffungspflicht (nur) für den Schuldbereich von Bedeutung ist: Insoweit ist zunächst auf Rn. 139 ff. zur fahrlässigen Tätigkeitsübernahme zu verweisen. – Bei unzureichenden Leitlinien wird dem Täter ein Schuldvorwurf (subjektive Fahrlässigkeit) nur dann zu machen sein, wenn sich ihm die Unzulänglichkeit dieser in Richt- und Leitlinien enthaltenen Vorgaben bei Berücksichtigung seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auch ohne besondere Nachprüfung hätte aufdrängen müssen.[128] Insoweit kommt den von der medizinischen Profession gesetzten, auf Qualitätssicherung (und damit auch Patientenschutz) zielenden Vorgaben letztlich doch eine gewisse Funktion der „Haftungsimmunisierung“