Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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wagnisbereite und verantwortungsbewusste ärztliche Berufsausübung“.[152] In den Worten von Laufs erlaubt die Therapiefreiheit dem Arzt „unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften, nach pflichtgemäßem und gewissenhaftem Ermessen im Einzelfall mit seinen Eigenheiten, diejenigen medizinischen Maßnahmen zu wählen, die nach seiner Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den aufgeklärt einwilligenden Patienten erwarten lassen.“[153] Hiermit wird zum einen dem Umstand Rechnung getragen, dass zur Beförderung medizinischen Fortschritts Abweichungen vom bislang anerkannten Standard möglich sein müssen.[154] Zum anderen würde eine starre Bindung an eine „herrschende“ Meinung zur sachgerechten Behandlung Gefahr laufen, die Individualität des Behandlungsgeschehens zu verfehlen.[155] Zur Therapiefreiheit gehört auch, dass der Arzt bei der Wahl der Therapie nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt ist. Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falls oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden.[156] Rechtliche Grenzziehung im Allgemeinen und strafrechtliche im Besonderen haben sich darauf zu beschränken, patientenschützende Mindesterfordernisse für die Ausübung ärztlicher Tätigkeit festzulegen. Durch diese Grenzkontrolle wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Therapiefreiheit als fremdnützige Befugnis (und nicht etwa als ärztliches Privileg[157]) dem Arzt keinen Freibrief einräumt:[158] Die Therapiefreiheit ist dem Arzt keineswegs zweckfrei eingeräumt, sondern gerade zum Wohle seines Patienten. Dem (Straf-)Recht kommt es hingegen angesichts der Besonderheit des Arzt-Patienten-Verhältnisses und der letztlich rational nicht völlig fassbaren Faktoren eines Heilerfolges[159] nicht zu, zwischen mehreren in Rede stehenden Heilverfahren „schiedsrichterlich“ zu entscheiden.[160] Dem Recht unter Einschluss des Strafrechts obliegt nur eine Grenzkontrolle dahingehend, ob der Arzt von dem ihm eingeräumten Spielraum zum Wohle des Patienten Gebrauch gemacht hat.[161] Diese „Ermessenskontrolle“ ist derjenigen ähnlich, die auch für die rechtliche Überprüfung der ärztlichen Indikation als Voraussetzung und Grenze medizinischer Tätigkeit zu gelten hat.[162]

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      Wenn also die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes ist,[163] so räumt ihm dieser rechtlich nicht nachprüfbare Beurteilungsspielraum dann doch keinen Freibrief für Starrsinn, Leichtsinn oder Unsachlichkeit ein:[164] Von ihm wird eine verantwortliche medizinische Abwägung unter Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung verlangt, wobei höhere Belastungen oder Risiken für den Patienten durch Besonderheiten des konkreten Falls oder eine günstigere Heilungsprognose sachlich gerechtfertigt sein müssen.[165] Steht die Überlegenheit eines konventionellen Verfahrens fest, darf sich der Arzt– jedenfalls ohne Konsens des vollinformierten Patienten (Rn. 67 ff.) – nicht auf objektiv unfundierte Experimente einlassen. Muss der Arzt bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit erkennen, dass die von ihm eingeschlagene Heilmethode im konkreten Fall nicht hinreicht, so muss er bei Krankheiten, für deren Behandlung noch ein anderes, weit verbreitetes und erprobtes Verfahren zur Verfügung steht, dieses anwenden bzw. die Behandlung aufgeben oder einen Fachkollegen hinzuziehen.[166] Die Freiheit der Methodenwahl zieht als unausweichliches Korrelat Sorgfaltspflichten nach sich, die die Behandlungsqualität gewährleisten sollen, wie bspw. eine genaue und umfassende Erhebung der Befunde vor der Wahl der Therapie.[167] Der Arzt hat alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anzuwenden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung gewährleisten; er muss umso vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler sich für den Patienten auswirken kann.[168] Desgleichen gehört zu den einzuhaltenden Sorgfaltspflichten, dass der Arzt sich im Einzelfall jeweils selbstkritisch prüft, ob seine Fähigkeiten oder Kenntnisse genügen, um eine ausreichende Diagnose zu stellen sowie eine sachgemäße Heilbehandlung einzuleiten und bei diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen beachten zu können. Sind diese Kenntnisse und Fähigkeiten nicht vorhanden, so hat er die Behandlungsmaßnahme zu unterlassen.

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      Schließlich ist zu betonen, dass den Arzt umso höhere Informationspflichten treffen, je mehr er vom Standardverfahren abweichen will (Rn. 73).[169] Umgekehrt deckt dann aber der Konsens des Patienten nicht nur den vorsätzlichen Eingriff als solchen, sondern auch dessen ungewollte Folgen (Rn. 138).

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      Zum Schutze der durch ärztliche Tätigkeit tangierten hochrangigen Rechtsgüter des Patienten[170] kann Therapiefreiheit nur für medizinisch vertretbare Diagnose- und Therapieentscheidungen gelten; für andere Konstellationen (namentlich bei Anwendung von Außenseitermethoden, hierzu Rn. 31) und bei fehlendem Standard ist der Maßstab eines vorsichtigen Arztes anzulegen (Rn. 36).[171] – Zur ggf. erforderlichen Aufklärung des Patienten über Behandlungsalternativen siehe Rn. 73 sowie Rn. 135 ff.

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      Zwar ist die lege artis-Durchführung einer Heilbehandlung nicht von vornherein auf die Anwendung sog. schulmedizinischer Maßnahmen beschränkt,[173] da dies weder mit dem Selbstbestimmungsrecht des (informierten!) Patienten[174] noch mit dem Grundsatz der Methodenfreiheit[175] zu vereinbaren wäre. Der fachärztliche Standard als Bezugspunkt der Sorgfaltspflichtverletzung stellt keine statische Größe dar (Rn. 36). Die zu beachtenden Regeln lassen sich schon deshalb nicht auf einen einmal erreichten Standard festschreiben, da dies zu einer Blockierung jeder Fortentwicklung in der Patientenbehandlung führen müsste.[176] Umgekehrt würde aber die Öffnung des „Behandlungskorridors“ der Methodenfreiheit für Verfahren, die nur als Dilettantismus oder gar Okkultismus anzusehen sind, das körperliche und gesundheitliche Wohl des Patienten ebenso verfehlen.[177] Da der Arzt sich jedoch zunächst an die Regeln zu halten hat, die bereits als hinreichend erprobt gelten (vgl. § 630a Abs. 2 BGB: allgemein anerkannte fachliche Standards), so wird er erst dann, wenn ihm nachvollziehbar die „Standardbehandlung“ im Einzelfall als weniger erfolgversprechend oder gar schädlich erscheint, zu weniger anerkannten Verfahren greifen dürfen,[178] es sei denn, der vollinformierte Patient hätte sich bewusst für diese „Außenseiterbehandlung“ entschieden.[179] Entsprechendes gilt, wenn eine ursprünglich „schulmedizinische“ Vorgehensweise ernsthaft angefochten wurde und ihre Anwendung nicht mehr als standardgemäß anzusehen ist. Generell gilt, dass der Arzt die von der Außenseitermethode (etwa der Homöopathie) zu erwartenden Vorteile mit möglichen Nachteilen besonders sorgfältig abzuwägen und den Verlauf seiner Behandlung kontinuierlich zu kontrollieren hat.[180] Hierbei hat er fortlaufend zu prüfen, ob die Anwendung der Außenseitermethode im Verhältnis zur Standard-Behandlung nicht doch ein unvertretbares Risiko darstellt.[181] Hierbei ist aber nicht isoliert auf den eventuell hinter der Wirksamkeit einer konventionellen Behandlungsmethode zurückbleibenden Heilerfolg abzustellen. Vielmehr sind auch gegengewichtend die Nebenwirkungen, die mit einer konventionellen Heilbehandlung verbunden wären, einzubeziehen.[182] Ein derartiger Methodenvergleich setzt hinreichende Sachkunde über das zu Vergleichende voraus. Der eine Außenseiterbehandlung Durchführende muss wissen, wie und mit welchen Erfolgsaussichten, aber auch Risiken die sog. Schulmedizin den Kranken im konkreten Einzelfall behandeln würde.[183] Bei der Anwendung der Außenseiterbehandlung hat der Arzt i.Ü. die Kriterien zu beachten, die von gewissenhaften Vertretern dieser Außenseitermethode allgemein anerkannt werden (sog. therapieinterner Standard).[184] Schließlich gilt auch hier, dass den Arzt umso höhere Informationspflichten treffen, je mehr er vom Standardverfahren abweichen will.[185] Diese Wechselwirkung zwischen Therapiewahl und Aufklärungspflicht lässt die Freiheit der Methodenwahl vom Ansatz her zurecht unangetastet (Selbstbeschränkung