Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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darstellen, werden sie durch neuere Erkenntnisse relativiert und können somit in einen Gegensatz zum einzuhaltenden Standard geraten: Sie sind relativ im Hinblick auf den Fortschritt der Erkenntnisse.[130] Dies hat für den behandelnden Arzt, der seine Behandlung am ärztlichen Standard auszurichten hat, zur Folge, dass er nicht nur diese Wegweisungen der ärztlichen Institutionen für die Festlegung sorgfaltsgemäßen Vorgehens zu beachten hat, sondern stets prüfen muss, ob in der veröffentlichten medizinischen Literatur Weiterentwicklungen des Erkenntnisstandes in dem fraglichen Feld erkennbar sind, die zu einer Relativierung oder gar Überholung dieser Richt- und Leitlinien führen.[131]

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      Weder begründet ein richt- bzw. leitlinienbezogener „Normenverstoß“ stets sorgfaltswidriges ärztliches Verhalten[132] noch vermag die Einhaltung entsprechender Vorgaben, die in der Regel nur auf den Durchschnittsfall abstellen, sorgfaltswidriges Verhalten von vornherein auszuschließen, sofern außergewöhnliche Gefährdungslagen vorliegen.[133] Leit- und Richtlinien können aber die Feststellung eines Behandlungsfehlers erleichtern, die Rechtsanwendung rationalisieren und den Sachverständigen anleiten,[134] da in ihnen nicht nur eine individuell-ärztliche, sondern institutionell-ärztliche Bewertung zum Ausdruck kommt. Dies ändert nichts daran, dass der Schritt vom allgemeinen Standard zum individuellen Fall, also die Standardanwendung im Einzelfall, einer individuellen Sachverständigenbewertung bedarf, weil die Leitlinie i.d.R. selbst eine begründete Abweichung erlaubt oder sogar gebietet. Die Abweichung von einer bestehenden Leitlinie stellt nie automatisch einen Behandlungsfehler dar. Dank ihrer Qualitätssicherungsfunktion bewirkt die Befolgung der Leitlinie aber eine gewisse „Haftungsimmunisierung“.[135] Wer die Richt- und Leitlinie befolgt, dem kann grundsätzlich kein Behandlungsfehler vorgeworfen werden, es sei denn, sie sind veraltet (entsprechen also nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft) oder es liegt ein „Sonderfall“ vor.

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      Wenn Richt- und Leitlinien auch keine Vorgreiflichkeit bei der Bestimmung sorgfaltswidrigen ärztlichen Verhaltens zukommt, so bleibt doch die Frage zu klären, inwieweit diejenigen, die an der Erstellung von vornherein unzutreffender Vorgaben beteiligt waren, strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sind, wenn es bei Anwendung ihrer Vorgaben zu einer Schädigung des Patienten kommt. Der Umstand, dass ggf. auch der behandelnde Arzt (auch subjektiv) fahrlässig gegen die einzuhaltende Sorgfalt verstößt, vermag diesen Personenkreis keineswegs von vornherein zu entlasten: Der deutschen Fahrlässigkeitsdogmatik ist eine Vorgabe, dass bei fahrlässigem Mitwirken an einem fremden Fahrlässigkeitsdelikt nur „den Letzten die Hunde beißen“, fremd.[136] Das Austarieren der Verantwortungsbereiche von Richt- und Leitlinien-Aufstellern und dem ihre Vorgaben anwendenden Arzt ist an einer Überlegung auszurichten, die auch sonst im Bereich sog. Sondernormen Geltung beansprucht: Zwar muss jeder sein Verhalten grundsätzlich nur darauf einrichten, nicht selbst fremde Güter zu gefährden, nicht aber darauf, dass andere dies nicht tun (Verantwortungsprinzip).[137] Ungeachtet dieser Zurechnungsbegrenzung kommt jedoch fahrlässiges Handeln der „Norm“-Aufsteller dann in Betracht, sofern sie infolge fachlicher Autorität und geordneten Verfahrensgangs erkennbar die Gewähr für die inhaltliche Richtigkeit und gefahrlose Anwendbarkeit der Norm zu übernehmen haben (wie dies etwa bei DIN- und VDE-„Normen“ der Fall ist).[138] Eine derartige „Gewährübernahme“ dürfte auch bei medizin-intern verfassten Richt- und Leitlinien (auch der Stufe S1) gegeben sein, da es sich bei ihnen um eine auf Qualitätssicherung zielende und mit der Autorität fachlicher Expertise publizierte Behandlungsempfehlung handelt. Auch insoweit gilt der von Lenckner bereits 1969 postulierte Grundsatz,[139] dass „(der eine Anleitung oder Empfehlung Erteilende dann) eine zusätzliche Verantwortung hat …, wenn er kraft überlegener Sachkunde eine besondere Vertrauensposition einnimmt und andere sich deshalb auf ihn zu verlassen pflegen und im allgemeinen auch verlassen dürfen … Dem besonderen Vertrauen, das dem Normgeber … entgegengebracht wird, (entspricht) eine gesteigerte Verantwortung.“ Diese strafrechtliche Zuschreibungsmöglichkeit von Patientenschädigungen gilt auch für den Fall, dass eine fachlich überholte Leit- oder Richtlinie nicht schnell genug überarbeitet oder zumindest für überholt erklärt wird.[140] Die insoweit dann aufgeworfenen dogmatischen Fragen der Strafbarkeit von Kollegialentscheidungen sind von der strafrechtlichen Produkthaftung her bekannt,[141] deren Grundsätze mutatis mutandis heranzuziehen sind.

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      Krankenhausinternen Verhaltensanweisungen (Compliance-Regelungen[142]) als solchen kommt weder eine strafbarkeitseinschränkende noch strafbarkeitserweiternde Funktion zu: Unterschreiten diese Vorgaben dasjenige, was vom Facharztstandard gefordert wird, so vermögen sie nichts an der möglichen Strafbarkeit des behandelnden Arztes zu ändern.[143] Weder werden durch sie die objektiven Sorgfaltsanforderungen abgesenkt noch wird der persönliche Fahrlässigkeitsvorwurf für den behandelnden Arzt entfallen, da von ihm erwartet werden muss, die für ihn handlungsleitenden Vorgaben (Facharztstandard) zu kennen.

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      Stellen diese unternehmensinternen Verhaltensvorgaben hingegen umgekehrt Anforderungen auf, die über den Facharztstandard hinausreichen, so zieht ein Verstoß hiergegen keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit[144] nach sich, solange der behandelnde Arzt sich im vom maßgeblichen Facharztstandard gewährten Behandlungskorridor bewegt. Dies gründet darauf, dass über die Anforderungen der Primärrechtsordnung hinausgreifende Unternehmensregeln keine unmittelbare Relevanz zu entfalten vermögen, weil strafrechtliche Sanktionierung keine Angelegenheit unternehmensinterner Selbstregulierung, sondern alleinige Angelegenheit des Staates ist. Materiell ist ohnehin die sich deutlich vom Bezugspunkt des Facharztstandards unterscheidende Zielrichtung von Compliance-Regelungen als unternehmensinterner Selbstbindung zu beachten. Während der Facharztstandard die Wahrung des gesundheitlichen Wohls des Patienten fokussiert, verfolgen Compliance-Regelungen das Ziel, von vornherein jegliche Haftung des Unternehmens zu vermeiden und hierdurch das Gewinninteresse des Unternehmens zu befördern; hierzu zählt auch der mit Einhaltung über den Facharztstandard hinausreichender Sorgfaltsanforderungen („best practice“[145]) verbundene Reputationsgewinn.[146] Das Wohl des Patienten hingegen wird durch diese Vorgaben (nur) mittelbar befördert. Es sollte auch zukünftig unter dem Blickwinkel des Ultima-ratio-Grundsatzes darauf geachtet werden, dass ökonomisch bedingte „best practice“-Handlungsgebote und strafrechtlicher Sorgfaltsstandard nicht in eins gesetzt werden.[147] Andernfalls würde gerade auch im Bereich der Krankenbehandlung die Befürchtung von Rotsch[148] Realität, der davor warnt, dass „(im) Hinblick auf eine mögliche Fahrlässigkeitsstrafbarkeit … die Besonderheit (besteht), dass Unternehmen etwa mit Richtlinien in einem häufig gesetzlich nicht durchnormierten Bereich die im konkreten Fall einzuhaltenden Sorgfaltsstandards selbst (mit)definieren. Je höher aber dieser Sorgfaltsmaßstab angesetzt wird, desto schwieriger wird es für die Unternehmensmitarbeiter, diese einzuhalten. Damit besteht dann die Gefahr, dass die Unternehmen sich selbst [Ergänzung: und ihre Mitarbeiter] in die Strafbarkeit hineinreglementieren.“ Diese Folge ist allerdings dann unvermeidlich, wenn die zunächst unternehmensintern adressierten Vorgaben infolge allgemeiner Praktizierung den Sorgfaltsmaßstab verkehrsgerechten Verhaltens – sozusagen als „Normsetzung durch die Praxis“[149] – mitbestimmten.[150]

b) Therapiefreiheit

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      Bei der Prüfung, ob ärztliches Verhalten die rechtlich gebotene Sorgfalt verfehlt hat, ist der Grundsatz der Therapiefreiheit als Kernstück ärztlicher Profession zu beachten: Gibt es innerhalb des anerkannten Standards mehrere medizinisch anerkannte Heilmethoden oder hat sich noch kein entsprechender Standard durchgesetzt, so ist dem Arzt in medizinischen