Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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je mehr Krankheiten mehr oder weniger erfolgreich behandelt werden können, umso mehr entwickeln die nunmehr länger lebenden Menschen andere, ggf. ihrerseits noch nicht behandelbare Krankheitsbilder. Da das medizinisch Machbare auch zukünftig über das praktisch Finanzierbare weit hinausreichen wird („Fortschritts-Ausgaben-Spirale“), werden sich die Fragen, inwieweit Ressourcenbeschränkungen im Gesundheitswesen den strafrechtlichen Haftungsmaßstab im Medizinrecht beeinflussen, zukünftig verstärkt stellen.[255] Verschärft wird dies alles zusätzlich durch eine demographische Entwicklung, durch die die Bevölkerungs-Pyramide zum -Pilz mutiert. Da aber auch andere gesellschaftliche Bereiche zur Kostenexplosion neigen, wird über allerorts wachsende Ansprüche letztlich politisch zu entscheiden sein, da das erwirtschaftete Bruttosozialprodukt nicht ausschließlich für das strukturell „unersättliche“ Gesundheitssystem ausgegeben werden kann.[256] So hat auch das Bundesverfassungsgericht[257] ausgeführt, dass der „Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung … auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein (darf) … Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht.“ Da das Bundesverfassungsgericht die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als gewichtigen Gemeinwohlbelang eingestuft hat,[258] dürfte insoweit ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum – jedenfalls für den Gesetzgeber – bestehen,[259] dessen Vorentscheidungen sich auch auf die strafrechtliche Arzthaftung auswirken werden.

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      Das Nachfolgende beschränkt sich auf die etwaigen strafrechtlichen Auswirkungen einer Rationierung bei der Gesundheitsversorgung,[260] also auf das bewusste, knappheitsbedingte Vorenthalten einer aus medizinischer Sicht notwendigen Gesundheitsleistung. Somit bleiben – für die strafrechtliche Haftung ohnehin nicht relevante – Fragen der Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven (Rationalisierung[261]) ebenso ausgeklammert wie der in letzter Zeit zunehmend in den Mittelpunkt gesundheitspolitischer Rationierungsdiskussionen gerückte Begriff der Priorisierung, also der ausdrücklichen Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter medizinischer Indikationen, Patientengruppen oder medizinischer Verfahren.[262] Würde allerdings nicht nur eine Rangstufe der Dringlichkeit abzuarbeitender „Fälle“ aufgestellt,[263] so läge bei einem Leistungsausschluss im Ergebnis dann doch Rationierung unter einem „gefälligeren“ Titel vor.[264]

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      Eine Rationierung in der Gesundheitsversorgung erfolgt an verschiedenen, voneinander abhängigen Stellen des Gesundheitssystems, so dass verschiedene Stufen der Makro-, Mezzo[265]– und Mikro-Allokation unterschieden werden.[266] Vorliegend sollen die Eckpunkte beleuchtet werden: Auf der obersten Stufe der Makro-Allokation werden die öffentlichen Ausgaben auf die einzelnen Haushaltsgebiete verteilt; es kommt – vereinfacht betrachtet[267] – somit zur Festlegung des Anteils der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt.[268] Auf der untersten Stufe der Mikro-Allokation werden schließlich die zur Verfügung gestellten Ressourcen auf konkrete Einzelpatienten verteilt (Allokation am Krankenbett): Die konkrete Last der Verteilung nicht ausreichend vorhandener Güter, bedingt durch Vorentscheidungen auf einer höheren Allokationsebene, hat der einzelne Arzt am Krankenbett zu bewältigen.[269]

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      Rationierung bei der Gesundheitsversorgung ist zum einen durch natürliche Knappheit bedingt. Als Beispiel sei die unlösbare Zwangslage infolge der nur begrenzten Anzahl der für Organtransplantationen zur Verfügung stehenden Organe angeführt, die eine Auswahl zwischen mehreren denkbaren Organempfängern erforderlich macht. Die strafrechtliche Lösung derartiger Konstellationen bereitet keine Schwierigkeiten: Ist dem Arzt mangels Spenderorgans eine lebensrettende Operation nicht möglich, entfällt seine Bestrafung aus einem Unterlassungsdelikt in Folge Unmöglichkeit der Erfolgsabwendung. Stehen nun einem Arzt infolge begrenzter Ressourcenzuteilung nur eingeschränkte, den jeweils zu fordernden Standard unterschreitende, Mittel zur Heilbehandlung zur Verfügung (z.B. nur wenige Betten auf der Intensivstation oder eine nicht auf dem neuesten Stand befindliche Diagnosekapazität), so gilt Folgendes: Ist ihm eine (rechtzeitige) Heilbehandlung aus diesem Grunde nicht möglich, so entfällt wegen – infolge von Allokationsentscheidungen auf höherer Ebene – fehlender Behandlungsmöglichkeit seine Strafbarkeit als Unterlassungstäter. Hiervon unberührt bleibt aber im Falle anderweitiger Behandlungsmöglichkeiten eine mögliche Fahrlässigkeitsstrafbarkeit,[270] die an die Behandlungsübernahme unter Außerachtlassung der beschränkten Behandlungskapazitäten anknüpft.

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      Ein Behandlungsfehler durch Vorenthalten medizinisch gebotener Leistungen kann – je nach Erfolgs- und Handlungsunwert – als vorsätzliche oder fahrlässige Tötung bzw. Körperverletzung,[271] verübt jeweils durch Unterlassen, in den Blick des Strafrechts geraten. Allerdings wird eine strafrechtliche Erfolgshaftung in Bezug auf eine nicht verhinderte Krankheitsverschlechterung bzw. eine nicht herbeigeführte Verbesserung des Gesundheitszustandes zumeist daran scheitern, dass ein hinreichender Zurechnungszusammenhang zwischen einer etwaigen ärztlichen Pflichtverletzung durch Nichtgewährung des medizinisch Möglichen und dem hierdurch herbeigeführten Erfolg im Sinne der Tötungs- bzw. Körperverletzungstatbestände jedenfalls dann nicht wird festgestellt werden können, wenn man mit Rechtsprechung und herrschender Lehre einen Kausalitäts- bzw. Zurechnungszusammenhang in der Form verlangt, dass ein pflichtgemäßes Verhalten des Arztes den Verletzungserfolg mit Sicherheit[272] verhindert hätte.[273] Hierzu dann noch unter Rn. 151 ff.

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      Anders stellt sich für den nicht gemäß ärztlichem Standard behandelnden Arzt allerdings seine zivilrechtliche Verantwortlichkeit dar, sofern diese (Nicht-)Behandlung als sog. grober Behandlungsfehler[274] einzustufen ist: Dann trifft – so der Bundesgerichtshof in Zivilsachen in Fortsetzung der Rechtsprechung des Reichsgerichtes – den Arzt die Beweislast für die Nichtursächlichkeit eines von ihm schuldhaft begangenen Fehlers, sofern dieser grobe Behandlungsfehler geeignet ist, einen Schaden der eingetretenen Art herbeizuführen.[275] Derartige – auch in der zivilrechtlichen Literatur nicht unumstrittene[276] – Beweislast-Sonderregelungen verbieten sich für den Bereich des Strafrechts von Vornherein.

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      Ergänzend sei angemerkt, dass der Arzt – sollte der Kausal- und Zurechnungszusammenhang mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können – sich nicht darauf berufen kann, dass ein infolge seiner Pflichtwidrigkeit nicht eingeschalteter Dritter (also etwa ein medizinischer Spezialist) sich ebenfalls und gleichermaßen pflichtwidrig aus Kostengründen nicht an der gebotenen Behandlung beteiligt hätte. Selbst wenn hierin ein zutreffender Hinweis auf eine entsprechende ärztliche Praxis läge, so kann sich der Arzt, um dessen strafrechtlich relevantes Unterlassen es geht, nicht dadurch entlasten, dass er sich auf eine mögliche zusätzliche Pflichtwidrigkeit eines Dritten beruft: Auch sonst wird bei Feststellung der Kausalität des Unterlassens davon ausgegangen, dass der pflichtwidrig nicht eingeschaltete Dritte seine Pflicht – so er denn eingeschaltet worden wäre – erfüllt hätte.[277] Der Unterlassungstäter hat aber durch seine eigene Pflichtwidrigkeit dem Dritten gerade keine Gelegenheit zur Pflichterfüllung gegeben. Insoweit ist mit Puppe[278] auch auf die Lederspray-Entscheidung des Bundesgerichtshofs hinzuweisen, in der der Senat im Ergebnis zutreffend auf Grund normativer Wertung zu dem Ergebnis gelangte, dass im Falle der Mehrfachkausalität die Täter sich nicht gegenseitig dadurch entlasten konnten, dass sie sich jeweils auf die Pflichtwidrigkeit des anderen Gremienmitgliedes beriefen.[279]

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