Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


Скачать книгу

statistisch gesichert ist. Ab einem gewissen Grad der Unwahrscheinlichkeit des erwünschten Erfolges beginnt auch außerhalb des ärztlichen Tätigkeitsfeldes eine Abwägung mit dem dafür erforderlichen Aufwand, und dies ungeachtet des allgemein anerkannten Grundsatzes, dass jedes Leben in jedem Zustand einen gegenüber ökonomischen Interessen nicht abwägbaren Höchstwert darstellt.[382] Zusätzlich sollte aber auch noch die quantitative Sinnlosigkeit einen von Rechts wegen zulässigen Teil medizinisch-ärztlicher Indikationsstellung bilden können: Maßnahmen, die eine Lebenserhaltung zwar hinreichend sicher, aber nicht für eine hinreichend lange Zeit[383] erreichen können, sind möglicherweise im Einzelfall nicht mehr angemessen. Sollte wirklich eine Rechtspflicht bestehen, an einem todkranken Patienten eine „große Operation“ zur Lebensverlängerung um wenige Stunden durchzuführen? Gar noch unter Einbeziehung einer Organspende?[384] Mit einer verneinenden Antwort wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Einsatz klinischer Maßnahmen in Grenzfällen eben immer auch ein Problem der Verteilung knapper Ressourcen ist.[385]

      68

      Demgegenüber vermag eine für den konkret zu behandelnden Patienten ausgeschlossene Honorierung ärztlicher Tätigkeit infolge einer Budgetierung[386] (etwa durch Vorgaben des Honorarverteilungsmaßstabes[387]) den an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt nicht aus seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entlassen, wenn er aus diesem Grunde eine medizinisch angezeigte Behandlung aufschiebt und hierdurch die Gesundheit oder gar das Leben seines Patienten schädigt: Die Frage der Kostenerstattung stellt lediglich eine Frage der Verteilung knapper Mittel innerhalb der Ärzteschaft dar.[388] Zu denken ist hierbei bspw. an Regelleistungsvolumina für ärztliche Leistungen, Richtgrößenvolumina für Arznei- und Verbandsmittel sowie insbesondere an Quartalspauschalen in Form von hausärztlicher Versichertenpauschale sowie fachärztlicher Grundpauschale;[389] auch die Fallpauschalen für die Krankenhausbehandlung sind hier zu erwähnen. Wagner[390] weist i.Ü. zurecht daraufhin, dass von einem Zwang zur kostenlosen Behandlung insoweit ohnehin keine Rede sein kann, da lediglich die Honorierung je behandeltem Patienten anteilsmäßig sinkt. Fehlende sozialversicherungsrechtliche Kostendeckung würde i.d.R. auch nicht zur Unzumutbarkeit (als strafbarkeitseinschränkendem Regulativ im Bereich der Fahrlässigkeits- und Unterlassenstrafbarkeit) führen, da die beim Patienten tangierten Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit/Gesundheit oder gar des Lebens gegenüber wirtschaftlichen Interessen des Arztes als höherwertig einzustufen sind.[391] Hinzu kommt, dass die gesetzliche Wertentscheidung (SGB V), wonach der Arzt und nicht sein Patient die aus der sozialversicherungsrechtlichen Budgetierung folgenden Nachteile zu tragen hat,[392] einer Anwendung von § 34 StGB (Nichtbehandlung kein „angemessenes“ Mittel) sowie der Annahme einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entgegensteht.[393] Dem Arzt ist also die Mühsal aufzuladen, in eigener Person – und damit auch auf eigenes finanzielles Risiko – sozial- und verfassungsrechtlich klären zu lassen, ob die innerärztliche Honorarverteilung auf die einzelnen Berufsgruppen und Praxen gegen das aus Art. 12 i.V.m. Art. 3 GG herzuleitende Gebot der Verteilungsgerechtigkeit verstößt.[394] Auch bleibt ihm die sicherlich höchst zeitaufwändige und mühselige Möglichkeit, die Notwendigkeit einer Überschreitung seiner Budgetgrenzen im Einzelfall zu belegen.[395]

      69

      Für eine mögliche Strafbarkeit derjenigen Leitungspersonen,[396] die patientenschädliche, von den behandelnden Ärzten dann umgesetzte Rationierungsvorgaben getroffen haben, gelten die soeben entwickelten Grundsätze sinngemäß. Aus dem in Rn. 97 genannten Grund kann sich dieser Personenkreis nicht darauf berufen, dass die (nicht-)behandelnden Ärzte ihrerseits ebenfalls sorgfaltswidrig gehandelt haben.

      70

      Nur angedeutet werden kann hier die Problematik, inwieweit diejenigen, die für entsprechende Vorgaben einer Behandlungslimitierung auf der Verteilungsebene der Makro- bzw. Mezzo-Allokation verantwortlich zeichnen, für hierdurch bewirkte Schäden an Leib und Leben bei unbehandelt bleibenden Patienten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sind. Man könnte daran denken, die Überlegungen fruchtbar zu machen, die im Zusammenhang mit sog. technischen Normen (etwa DIN-Vorschriften) hinsichtlich der „Norm“-Aufsteller angestellt worden sind: Insoweit kommt (fahrlässiges) Handeln dieser Personen immerhin dann in Betracht, sofern sie infolge ihrer fachlichen Autorität und eines geordneten Verfahrensganges bei der Aufstellung der Regelungen erkennbar die Gewähr für deren inhaltliche Richtigkeit und gefahrlose Anwendbarkeit übernehmen, wie dies etwa in Bezug auf die DIN- oder VDE-Normen der Fall ist.[397] Vorliegend geht es aber nicht um Vorgaben für standardgemäßes Vorgehen im Einzelfall. Die Akteure auf der Makro-Allokationsebene üben entweder ihren eigenen politischen Gestaltungsspielraum (Parlament) oder den ihnen gesetzlich übertragenen (Gemeinsamer Bundesausschuss, § 91 SGB V) aus. Auch der sog. Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes[398] ist letztlich trotz Anerkennung eines verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruches kein umfassendes Rationierungsverbot zu entnehmen.[399] Das Bundesverfassungsgericht[400] hat im Ergebnis allerdings unmittelbar aus der Verfassung einen medizinischen Leistungsanspruch gegenüber der Sozialversicherung konstruiert, der einzig und allein auf den Gesundheitszustand des Betroffenen und auf eine (überdies dann auch nur potenzielle) medizinische Zweckmäßigkeit der Leistung abstellt, ohne noch eine Kosten-Nutzen-Abwägung zuzulassen. Sicherlich stand bei dieser Entscheidung auch der Umstand im Hintergrund, dass der Betroffene eigene Beiträge zur Sozialversicherung aufgewandt hatte. Dies ändert aber nichts daran, dass nach der Auffassung des höchsten deutschen Gerichtes bei akut lebensentscheidenden Maßnahmen bzw. bei deren Unterlassen ökonomische Gründe nicht ausschlaggebend sein dürfen.[401] Hierdurch sind auch gesetzlichen Rationierungsregelungen (sowohl des Parlaments als auch der sozialversicherungsrechtlichen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses) Schranken gesetzt.[402] Inwieweit hiergegen verstoßende Vorgaben der Parlamentsabgeordneten oder der Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses dann (ungeachtet von Kausalitätsfragen) eine entsprechende strafrechtliche Verantwortlichkeit dieser Rationierungsverantwortlichen auf Makro-Ebene nachsichzögen, bedarf ebenso weiterer rechtswissenschaftlicher Diskussion wie die Bewertung derjenigen, die auf der sog. Mezzo-Ebene (bspw. Kassenärztliche Vereinigungen und Gesetzliche Krankenkassen bei der Festlegung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs oder des Regelleistungsvolumens[403]) möglicherweise faktisch rationierende Entscheidungen treffen.

3. Abweichungen vom Standard

      71

      Die vom potentiellen Täter eines Fahrlässigkeitsdeliktes einzuhaltende Sorgfalt gebietet es generell, zur Vermeidung von Gefahren das Optimum dessen zu leisten, was in der konkreten Lebenssituation hierzu geleistet werden kann.[404] Somit ist auch im Bereich der Heilbehandlung der behandelnde Arzt, der über ein überdurchschnittliches Leistungsvermögen verfügt, zu größerer Umsicht aufgerufen; er unterliegt damit gegenüber durchschnittlichen Anforderungen erhöhten Sorgfaltsanforderungen.[405] So darf bspw. ein besonders befähigter Chirurg bei einer riskanten Operation sich nicht auf die Anwendung derjenigen Fertigkeiten und Techniken beschränken, die den Mindeststandard für jeden bilden, der sich überhaupt als Chirurg betätigen darf; er hat vielmehr das zu leisten, was er nach seinen Fähigkeiten zu leisten vermag.[406] Der insoweit nicht sonderlich geglückten Regelung des § 630a Abs. 2 BGB, die auf die „anerkannten fachlichen Standards“ abstellt, ist bereits für das zivilrechtliche Haftungsrecht nichts Gegenteiliges zu entnehmen.[407] Da aber ein stetes Agieren auf höchstem Niveau (auch) von einem Arzt realistischer Weise nicht gefordert werden kann, ist stets – im Rahmen der Schuldprüfung