Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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Praxis, die sich sowohl an fachlich-medizinischen Vorgaben als auch an arztethischen Parametern ausrichtet, wäre indessen allenfalls dann beeinträchtigt, wenn ärztlicherseits „Heil“behandlungen durchgeführt würden, die kontraindiziert wären (hierzu Rn. 78).[452] Ein solcher Vertrauensverlust ist hingegen nicht zu befürchten, wenn lediglich die Durchführung von nicht indizierten Heilmaßnahmen im Raum steht.[453]

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      Mithin kann eine Einwilligung des Patienten den vorgenommenen Eingriff auch ohne Vorliegen einer medizinischen Indikation strafrechtlich legitimieren. Dem steht auch nicht die Dispositionsschranke des § 228 StGB entgegen,[454] da diese Vorschrift nicht dem im Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) enthaltenen Gebot hinreichend bestimmter täterbelastender strafrechtlicher Regelungen gerecht wird.[455]

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      Das soeben Ausgeführte beansprucht m.E. auch in Fällen Gültigkeit, in denen ein Arzt einen körperverletzenden Eingriff vornimmt, obwohl Umstände vorliegen, denen zufolge sich die Anwendung eines diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens wegen der hiermit verbundenen Gefährdung des Patienten oder ihrer zu erwartenden völligen Nutzlosigkeit[456] verbietet oder nur unter strenger Abwägung der gesundheitlichen Gefahren möglich wäre.[457] Auch in dieser Fallkonstellation ist – nach entsprechender Aufklärung durch den Arzt – eine wirksame Einwilligung des Patienten möglich;[458] alles andere wäre unzulässiger (harter[459]) Paternalismus. Genauso wie ein Patient infolge seines Selbstbestimmungsrechts „unvernünftiger Weise“ dem Arzt eine vital indizierte Behandlung untersagen kann, so steht ihm auch umgekehrt die Befugnis zu, eine kontraindizierte ärztliche Maßnahme[460] zu gestatten, ohne dass seine Entscheidung einen „Filter der Vernunft“ durchlaufen muss.[461] Hierbei stellt sich i.d.R. die hier nicht zu erörternde Problematik, dass bei derartigen medizinisch nicht erforderlichen, patientenschädigenden Maßnahmen der Patient ein Ergebnis erstrebt, das mit der Vornahme der Behandlung auch nach Einschätzung des Arztes gar nicht erreicht werden kann; deshalb könnte die Einwilligung möglicherweise nicht rechtswirksam erteilt worden sein.[462]

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      Unter einem Behandlungsfehler ist ein nach dem Stand der Medizin unsachgemäßes Verhalten des Arztes zu verstehen.[463] Dieses wird strafrechtlich allerdings erst dann bedeutsam, wenn es eine Körperverletzung oder gar den Tod des behandelten Patienten nachsichzog. Unter dem umfassenden Oberbegriff des „Behandlungsfehlers“ können nach Katzenmeier[464] sowohl die Vornahme eines nicht indizierten Eingriffs[465] wie umgekehrt die Nichtvornahme eines indizierten Eingriffs ebenso fallen wie Fehlmaßnahmen oder unrichtige Dispositionen des Arztes bei Anamnese, Diagnose, Prophylaxe, Therapie und Nachsorge. Auch Fehler im Behandlungsumfeld sind erfasst,[466] wie etwa das Unterlassen gebotener Kontrolluntersuchungen oder des Anforderns wichtiger Patientendaten, deren Existenz dem Behandelnden bekannt ist (oder hätte bekannt sein müssen). Erfasst werden desgleichen bspw. fehlerhafte Abstimmungen zwischen mehreren Behandlern, eine dem Standard nicht entsprechende Einteilung von Ärzten im Operationsplan oder eine verfrühte Entlassung des Patienten sowie eine unterlassene Sicherungsaufklärung des Patienten zur Sicherstellung seines therapiegerechten Verhaltens. Der neutrale Begriff des Behandlungsfehlers ist auch in der Rechtsprechung an die Stelle des historisch älteren[467] und eher Missverständnisse befördernden Begriff des Kunstfehlers getreten.[468] Letztlich kommt es aber nicht auf diese Umschreibung, sondern entscheidend darauf an, ob eine Sorgfaltswidrigkeit i.S.d. Fahrlässigkeitsdelikts, mithin eine nicht legitimierte Unterschreitung des gebotenen Facharztstandards, vorliegt.[469]

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      Wie auch sonst bei Fahrlässigkeitsdelikten gilt es für den Rechtsanwender, sich bei seiner ex ante-Beurteilung der Gefahr von Zuschreibungsfehlern[470] bewusst zu sein und sich nicht durch die „actor-observer-Differenz“ zu derartigen Fehlern bei der nachträglichen Bewertung menschlichen Verhaltens verleiten zu lassen:[471] Die Offenheit der Handlungssituation, in die der Arzt sich gestellt sieht, kann bei nachträglicher Beurteilung ebenso unterschätzt wie umgekehrt die Möglichkeit einer rationalen Entscheidungsfindung überschätzt werden.[472] Die Kenntnis der tatsächlich eingetretenen Handlungsfolgen lässt sich nur schwer ausblenden, so dass nachträglich gestellte „Prognosen“ einem schleichenden Determinismus unterliegen können. Überdies erfolgen Bewertungen häufig in Relation zur Schwere der negativen Handlungsfolgen, so dass stets die Gefahr einer unangemessenen „Erfolgsorientierung“ und einer Reduktion des Bewertungsvorgangs auf die bloße „Rekonstruktion eines versteinerten Kausalverlaufs“ besteht („severity-responsibility-relation“).[473] Damit würde aber die Grenze zwischen Schicksal (des Patienten) und Schuld (des Arztes) verwischt.[474] Aus diesem Grunde hat auch der für die Arzthaftung zuständige 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zurecht aus der Eigentümlichkeit des ärztlichen Handelns geschlossen, dass „Kausalverläufe bei ärztlichen Eingriffen (…), weil ein jeweils anderer Organismus getroffen ist, dessen Zustand und Reaktion nicht sicher berechenbar ist, häufig weder vorausschauend noch rückwirkend eindeutig feststellbar (sind). Mißerfolge und Komplikationen im Verlauf einer ärztlichen Behandlung weisen deshalb nicht stets auf ein Fehlverhalten des behandelnden Arztes hin.“[475] Ferner: „Zwischenfälle, die in der Regel auf ärztliches Fehlverhalten hindeuten, (können) in vielen Bereichen infolge der Unberechenbarkeit des lebenden Organismus ausnahmsweise auch schicksalhaft eintreten (…).“[476] Des Weiteren: „(Auch sind die) Symptome einer Erkrankung (…) nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen … Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen.“[477] Diese Unberechenbarkeit des lebenden Organismus[478] verbietet es, aus einem Fehlschlag ärztlicher Bemühungen oder einem Behandlungszwischenfall umstandslos auf ein Fehlverhalten zu schließen.[479] Stattdessen ist darauf abzustellen, ob „der Arzt unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat.“[480]

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      Das weite Feld möglicher ärztlicher Behandlungsfehler kann hier nicht näher dargestellt werden. Insoweit muss es – mit Ausnahme des sogleich pars pro toto näher beleuchteten Diagnosefehlers sowie der unzureichenden therapeutischen Aufklärung – mit einer stichwortartigen Aufzählung sein Bewenden haben und auf die Spezialliteratur[481] verwiesen werden, in der sich auch eine Vielzahl von Rechtsprechungsnachweisen (primär aus dem Bereich des Zivilrechts) findet. Die hier nur anzudeutende Bandbreite fahrlässigen Verhaltens umfasst sowohl eine fehlerhafte (also nicht mehr vom Grundsatz der Therapiefreiheit gedeckte) Methodenwahl[482] (wozu auch ein off-label-use von Medikamenten zählen kann[483]) als auch eine fehlerhafte Behandlungstechnik.[484] Ebenso kann ein Geräte- oder Bedienungsfehler[485] strafrechtliche Konsequenzen nachsichziehen. Auch Verstöße gegen Prüfpflichten bergen ein erhebliches Strafbarkeitsrisiko,[486] wie bspw. das Zurücklassen von Fremdkörpern im Operationsgebiet.[487] Verwechslungen bei der Medikation (ebenso wie eine von vornherein fehlerhafte Medikation)[488] sind ebenso relevant wie Verstöße gegen Hygienevorgaben.[489] Kontroll- und Überwachungsfehler (insbesondere eine unzureichende Überwachung der Vitalfunktionen)[490] können eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ebenso auslösen (zur unzulässigen Delegation originär ärztlicher Tätigkeiten dann noch Rn. 94 in Fn. 584) wie das Unterlassen rechtzeitiger Krankenhauseinweisung bzw. eine fehlende oder verspätete Hinzuziehung eines Facharztes,[491]