Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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Beispiel dann nicht der Fall sein, wenn dem Chirurgen bei einer infolge nicht vorhersehbarer Komplikationen erheblich länger als geplant andauernden Operation infolge Ermüdung ein Fehler unterläuft, den er nach seinen speziellen Fähigkeiten im Normalfall hätte vermeiden können.[408]

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      Entsprechend zur Verschärfung des generellen Facharzt-Standards infolge höheren individuellen Leistungsvermögens sind auch an denjenigen Arzt gesteigerte Sorgfaltsanforderungen zu stellen, der über (zumindest aktualisierbares) Sonderwissen verfügt.[409] Dies betrifft namentlich therapiebedeutsame Spezialkenntnisse,[410] und zwar unabhängig davon, ob der Arzt diese Erkenntnisse aus der konkreten Behandlung dieses Patienten gewonnen hat oder ob sein Wissen auf abstrakter Kenntniserlangung, bspw. im Wege ärztlicher Fortbildung,[411] beruht.[412]

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      Stimmt ein Patient nach entsprechender Aufklärung einer ärztlichen Behandlung zu, die nicht den Anforderungen des Facharztstandards entspricht, so liegt in dieser Standardunterschreitung kein, eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründender, Verstoß gegen ärztliche Sorgfaltspflichten. Da ein Patient in Ausübung seines durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Selbstbestimmungsrechts über seine körperliche Integrität eigenverantwortlich darüber entscheiden kann, welchen Behandlungen er sich unterziehen will, steht dem um die Tragweite seiner Entscheidung wissenden Patienten auch die Befugnis zu, sich mit einer nicht dem Facharztstandard entsprechenden Behandlungsmethode einverstanden[413] zu erklären.[414] Diese Rechtslage findet auch im 2013 neu eingefügten § 630a Abs. 2 BGB ihre Bestätigung, wonach die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat, „soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.“[415] Mit dieser Formulierung wollte der Gesetzgeber die Dispositionsmöglichkeit des Patienten entsprechend zum bisherigen Recht wahren.[416] Die höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht[417] hat ebenfalls einen entsprechenden Konsens für möglich erachtet.[418] – Hierzu auch in Rn. 135 ff. – Zivilrechtliche Überlegungen, wegen des Ungleichgewichts zwischen dem Patienten, der die Behandlung benötigt, und dem Behandelnden, der eine Haftpflichtversicherung hat, Haftungsbeschänkungen für unwirksam zu halten,[419] sollten nicht in das Strafrecht übertragen werden (vgl. Rn. 11). – Bei Durchführung der Behandlung hat sich der Arzt – wie in Fällen, in denen ein Facharztstandard noch nicht bzw. nicht mehr besteht – am Leitbild eines vorsichtigen Arztes zu orientieren und ggf. sein Vorgehen auf eine Behandlung umzustellen, die innerhalb des fachärztlichen Behandlungskorridors liegt. – Fehlt es hingegen an einer entsprechenden Aufklärung des Patienten, dann liegt infolge der Standardunterschreitung nicht nur ein Aufklärungs-, sondern bei einem hierdurch verursachten körperlichen Schaden auch ein Behandlungsfehler vor.[420] – Bei einer vom Arzt nicht eingehaltenen Vereinbarung[421] einer Behandlung, die umgekehrt die Anforderungen des Facharztstandards übertreffen sollte (etwa bei einer Neulandbehandlung[422]), erhöhen sich die Sorgfaltsanforderungen an den Arzt entsprechend. Sofern er zu ihrem Einhalten nicht in der Lage war, läge eine Sorgfaltswidrigkeit auch unter dem Aspekt einer Übernahmefahrlässigkeit (Rn. 142 ff.) dann nicht vor, sofern die Behandlung immerhin noch innerhalb des Facharztstandards erfolgt.[423] Allerdings würde in derartigen Fällen der ärztliche Eingriff als solcher eine strafbare vorsätzliche Körperverletzung darstellen, sofern die Einwilligung des Patienten infolge ärztlicher arglistiger Täuschung[424] (über die geplante Behandlungsweise) unwirksam ist.

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      Ärztliches Agieren, das sich nicht mehr als ein (nur) die Heilungs-Bedürfnisse des Patienten befriedigendes, sondern als ein darüber hinausgreifendes, Patientenwünsche erfüllendes Verhalten (Stichwort: „Enhancement“[425]) darstellt, wirft sicherlich auch die Frage nach den strafrechtlichen Grenzen entsprechenden ärztlichen Tuns auf. Als Stichworte seien hier reine Schönheitsoperationen ohne medizinische Veranlassung,[426] eine medizinisch nicht gebotene Kaiserschnittentbindung („Wunschsectio“)[427] oder die aus welchen Gründen auch immer erfolgende Abtrennung gesunder Körperteile[428] genannt. Hier stellt sich die Frage, ob – und wenn ja: in welchem Umfang – entsprechendes ärztliches Handeln allein auf Basis der vom Betroffenen erteilten Einwilligung strafbarkeitsbefreiende Legitimation erfährt.[429] Ob ein ärztlicher Eingriff, für den keine medizinische Indikation[430] besteht, überhaupt noch als ein zulässiger Heileingriff angesehen werden kann, ist bekanntlich umstritten.[431] Die Notwendigkeit einer medizinischen Indikation für eine Straflosstellung körperverletzenden ärztlichen Handelns könnte sich daraus herleiten lassen, dass man – anders als die ständige Rechtsprechung[432] – einen medizinisch indizierten, von einem Arzt lege artis (erfolgreich) durchgeführten Heileingriff aus dem Tatbestand der Körperverletzungsdelikte auch des Strafgesetzbuches ausgeklammert sehen will.[433] Fehlt die medizinische Indikation als die nach allen Spielarten dieser Auffassung unerlässliche Grundvoraussetzung eines aus dem Anwendungsbereich der §§ 223 ff. StGB herauszunehmenden ärztlichen Heileingriffs, so steht zumindest fest, dass dieses ärztliche Handeln dem Anwendungsbereich der Körperverletzungstatbestände nicht von vornherein entzogen ist, da eine medizinische Indikation als privilegierender Tatbestandsausschlussgrund[434] nicht vorliegt. Daraus kann allerdings nicht im Gegenschluss die Annahme hergeleitet werden, dass bei fehlender Indikation strafbares Unrecht verwirklicht wird.[435] Bei der sich anschließenden Überlegung scheiden sich die Geister: Während ganz überwiegend ein indikationsloses Handeln zwar dem Straftatbestand des § 223 StGB zugeordnet, eine Rechtfertigung dann aber infolge der erteilten Einwilligung für möglich erachtet wird,[436] gelangen andere Autoren[437] zu dem Ergebnis, es läge eine Strafbarkeit[438] wegen vorsätzlicher Körperverletzung vor.

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      Es besteht jedoch keine Veranlassung, im Bereich ärztlicherseits bewirkter Körperverletzungen gleichsam ein Sonderrecht[439] (etwa durch Annahme einer wegen Standeswidrigkeit infolge fehlender ärztlicher Indikation unwirksamen Einwilligung des Verletzten) zu schaffen und von den sonst geltenden Grundsätzen abzuweichen,[440] wonach bei freiverantwortlicher Disposition des Rechtsgutsinhabers infolge Einwilligung die Strafbarkeit entfällt.[441] Zusätzlich ist zu beachten, dass die hergebrachten Grenzen ärztlicher Berufstätigkeit und damit auch des ärztlichen Heileingriffs ohnehin zunehmend verschwimmen; erinnert sei an Schönheitsoperationen, aber auch an ärztliche Hilfestellungen im Rahmen der Reproduktionsmedizin.[442] Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Grenzen medizinischer Indikation[443] als allgemeiner arztrechtlicher Voraussetzung für zulässiges ärztliches Handeln[444] sind noch nicht absehbar.[445] Dies bildet im Übrigen einen weiteren Grund, den Einsatz des scharfen Schwertes des Strafrechts von vornherein nicht auf dem Treibsand sich wandelnden ärztlichen Standesrechts zu verankern.[446] Hinzu kommt der Umstand, dass schon der Bezugspunkt der ärztlichen Indikation, nämlich die Krankheit des Patienten, nicht ausschließlich objektiv bestimmt werden kann, sondern als Abweichung vom „Normalen“ die Sicht des betroffenen Patienten, die von ihm empfundene Belastung, einzubeziehen hat.[447] Auch dieser Aspekt spricht für die strafrechtliche Relevanz des Patientenwillens in der vorliegend diskutierten Fragestellung.

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      Wollte man hingegen die Unzulässigkeit eines ärztlichen Heileingriffs, der ohne ärztliche Indikation[448] allein auf Grund der Patienteneinwilligung durchgeführt wird, annehmen, so würde sich folgende Überlegung aufdrängen: Eine derartige – wegen der Hintanstellung der Selbstbestimmung des Patienten hinter das Primat einer Bewahrung ärztlicher Standards ohnehin abzulehnende[449] – Einwilligungsschranke[450] wäre materiell letztlich nur damit zu begründen, dass andernfalls das Vertrauen