Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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weiter behandelt werden, wird es doch insoweit häufig – jedenfalls auf Basis der Rechtsprechung[280] – selbst bei einer schweren Erkrankung an einem „Unglücksfall“ fehlen, sofern es sich nicht um eine plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten, sondern „nur“ um dessen vom – wie auch immer zu bestimmenden – gesundheitlichen Normalzustand abweichenden, konstanten Krankheitsstatus handelt.[281] Anders wäre hingegen dann zu entscheiden, wenn es sich um eine Krisensituation handelt, bei der infolge eines sich plötzlich verschlimmernden Krankheitsverlaufs oder bei unerträglich werdenden Schmerzen ein sofortiges Eingreifen erforderlich ist.[282] Im Übrigen bleibt zu beachten, dass in diesen Fällen (ärztliche) Hilfe[283] auch dann geleistet werden muss (Schmerzbekämpfung),[284] wenn sie letztlich vergeblich bleibt und sich die zu befürchtende Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten aus der Rückschau als von Anfang an unabwendbar erweist;[285] der Umstand, dass der Tod des Patienten von vornherein nicht abgewendet werden kann, schließt die Erforderlichkeit ärztlicher Hilfeleistung (Maßnahmen zur Schmerzlinderung) nicht aus.[286] Die Hilfspflicht entfällt allerdings, sobald der Tod des Verunglückten eingetreten ist.[287] Die „bei“ einem Unglücksfall erforderliche Hilfeleistungspflicht kann auch für einen ortsabwesenden,[288] um telemedizinische Hilfe gebetenen Arzt bestehen.[289]

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      Der vom (Straf-)Recht rezipierte medizinische Standard[290] verschließt sich vom Ansatz her keineswegs differenzierenden Überlegungen, bestimmt er sich doch unterschiedlich je danach, welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Ressourcen (personeller wie auch apparativer Art) im jeweiligen Verkehrskreis des Arztes vorauszusetzen sind (siehe Rn. 38).[291] So ist an die apparative Ausstattung eines Universitätskrankenhauses ein höherer Maßstab anzulegen als an diejenige eines Kreiskrankenhauses, ein Allgemeinmediziner muss auch von Rechts wegen nicht über die Fachkenntnisse verfügen, die an einen Spezialisten, etwa in einer Universitätsklinik, zu stellen sind.[292] Die Anforderungen an sorgfaltsgemäßes ärztliches Verhalten unterscheiden sich mithin je nach Fachausbildung des Arztes sowie den dem Arzt zur Verfügung stehenden persönlichen und sachlichen Mitteln.[293] Der haftungsrechtlich zu fordernde Standard ignoriert ökonomische Zwänge nicht.[294] Generelle, d.h. durch Entscheidungen auf der Ebene der Makro-Allokation bewirkte, Defizite im Gesundheitssystem dürfen nicht auf den behandelnden Arzt abgewälzt werden:[295] So kann keineswegs überall und zu jeder Zeit eine optimale Versorgung, die modernste Technik oder die beste Ausstattung verlangt werden;[296] für eine Übergangszeit kann aus Kostengründen auf die Anschaffung technischer Neuerungen verzichtet und nach der altbewährten, noch nicht verbesserten Methode vorgegangen werden.[297] Entsprechende Qualitätsunterschiede sind unschädlich, solange ein zwar nicht optimaler, aber noch ausreichender medizinischer Standard erreicht wird:[298] Eine medizinisch mögliche, aber unbezahlbare Maximaldiagnostik und -therapie bestimmt nicht den an ärztliches Verhalten anzulegenden Sorgfaltsmaßstab. Bereits das zivilrechtliche Haftungsrecht hat sich bei der Bestimmung des ärztlichen Sorgfaltsmaßstabes wirtschaftlichen Gesichtspunkten keineswegs verschlossen. Dies sei durch einen Blick auf einige wenige Beispiele belegt: Die personelle Ausstattung eines Entbindungsteams in einem Kreiskrankenhaus muss nicht die Qualität aufweisen, die für schwere Fälle bei einem Perinatalzentrum erwartet werden darf.[299] Das Fehlen neuester apparativer Ausstattung in einem Krankenhaus für Allgemeinversorgung begründet – ebenfalls nach Auffassung des Bundesgerichtshofs – keine Haftung, da eine dem jeweiligen Stand der Medizin entsprechende Therapie nicht zur Voraussetzung habe, dass jeweils das neueste Therapiekonzept verfolgt werden und eine auf den neuesten Stand gebrachte apparative Ausstattung eingesetzt werden müsste; schon aus Kostengründen könne nicht jede technische Neuerung, die den Behandlungsstandard verbessern könne, sofort von allen Kliniken angeschafft werden, so dass es für eine gewisse Übergangszeit gestattet sein müsse, nach älteren, bis dahin bewährten Methoden zu behandeln.[300] Ein letztes Beispiel: Im Hinblick auf die Bevorratung von Medikamenten hat der Bundesgerichtshof[301] durchaus Aspekte der Unwirtschaftlichkeit einer Vorratshaltung vom Ansatz her akzeptiert. Das auf Schadensersatz wegen der Herbeiführung einer Hepatitis-Infektion in Anspruch genommene Krankenhaus konnte sich hinsichtlich der Nichtanwendung eines nicht bevorrateten teureren Medikamentes aber hierauf nicht berufen, da das Medikament noch rechtzeitig hätte beschafft werden können. Somit kann mit Wagner festgehalten werden, dass wirtschaftliche Erwägungen in den (zivil-)rechtlichen Sorgfaltsstandard von vornherein eingebaut sind und nicht erst von außen an ihn herangetragen werden müssen.[302]

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      Es sind demnach gewisse Behandlungsunterschiede auch vom (Straf-)Recht zu tolerieren, solange ein zwar nicht optimaler, aber eben noch ausreichender[303] medizinischer Standard erreicht wird. Bei der Feststellung sorgfaltsgemäßen Verhaltens besteht auch insoweit ein „Behandlungskorridor“, innerhalb dessen der Arzt sich straffrei bewegen kann. Die Frage nach diesem noch ausreichenden medizinischen Standard im ökonomisch-juristischen Spannungsfeld dürfte die Rechtsprechung zukünftig verstärkt beschäftigen. Die gegenwärtige Rechtslage bietet dem Arzt jedenfalls relativ wenig Handlungssicherheit.

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      Auch bei einer durch Allokationsentscheidungen auf höherer Ebene bewirkten Herabsetzung des ärztlichen Standards sind zum Schutze des Patienten unverzichtbare Standarduntergrenzen einzuhalten, deren Bestimmung allerdings schwierig genug sein dürfte.[304] Auch im Bereich der zivilrechtlichen Produkthaftung – um diese Konstellation als Vergleich heranzuziehen – wird ja i.Ü. zurecht eine gewisse Basissicherheit eingefordert.[305] Da im Bereich der Heilbehandlung Standardunterschreitungen für den Patienten regelmäßig weder erkennbar noch kompensierbar sind, kann man hierauf auch im Bereich der strafrechtlichen Arzthaftung nicht verzichten.

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      Anders sollte hingegen die Frage beurteilt werden, welche entfernten Restrisiken ein Arzt bei seiner Behandlung zulässiger Weise in Kauf nehmen darf: Bei einer Entscheidung bspw. über die Durchführung weiterer diagnostischer Maßnahmen zur Abklärung eines entfernten Risikos kann der wirtschaftliche Aufwand, z.B. für Anomaliefeststellungen, mitberücksichtigt werden.[306] Dass die Zuschreibung einer Sorgfaltspflichtverletzung auch die Kosten gefahrabwendender Sorgfaltsmaßnahmen gegengewichtend einbezieht, ist jedenfalls dem zivilrechtlichen Deliktsrecht bei seiner Bestimmung des Umfangs der Verkehrspflichten nicht fremd.[307] Dies sollte auch für die zukünftige arztstrafrechtliche Betrachtung maßgebend sein.

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      Insoweit sei abschließend bemerkt, dass eine Begrenzung finanzieller Ressourcen auf Dauer auch den sog. Facharztstandard (Rn. 12 ff.) beeinflussen dürfte, da für seine Herausbildung ja nicht nur der medizinischen Wissenschaft, sondern auch der Anerkennung einer bestimmten Verfahrensweise in der Praxis maßstabsbildende Kraft zukommt.[308]

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      Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass jedenfalls gegenwärtig kein Spannungsverhältnis zwischen den gesetzlichen Vorgaben des Sozialrechts (SGB V), dem medizinischen (Mindest-)Standard sowie dem an diesen Mindeststandard anknüpfenden (strafrechtlichen) Haftungsrecht besteht, da sich der Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung ungeachtet der erforderlichen Kostendämpfungsmaßnahmen dem medizinisch Notwendigen und Ausreichenden nach wie vor verpflichtet sieht,[309] vgl. § 12 SGB V: Nach dem dort statuierten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen ärztliche Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Für die Krankenbehandlung bestimmt § 27 SGB V, dass Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

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      Durch