Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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auch eine fehlerhafte therapeutische Aufklärung (Sicherungsaufklärung[494]) für die Folgezeit[495] (vgl. § 630c Abs. 2 S. 1 a.E. BGB). Sind für den Behandelnden Umstände erkennbar, die die Annahme eines Behandlungsfehlers begründen, so hat er gemäß § 630c Abs. 2 S. 2 BGB den Patienten zur Abwendung gesundheitlicher Gefahren zu informieren; bei Nichterfüllen dieser Verpflichtung kann er sich ggf. nach §§ 229, 222, 13 StGB strafbar machen.

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      Jeder Krankenbehandlung geht die Diagnose des Ist-Zustandes des Patienten voraus, also die Feststellung und medizinische Beurteilung seiner Beschwerden durch Anamnese, Untersuchung sowie anschließender Auswertung der erhobenen Befunde. Das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome kann einen Behandlungsfehler darstellen. Da aber die Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind, sondern auf die verschiedensten Ursachen hinweisen können, überdies jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen kann, Symptome sich vielfach auch als doppeldeutig erweisen, sind Irrtümer bei der Diagnosestellung oft nicht als Sorgfaltswidrigkeit des Arztes einzustufen.[496] Liegt die Ursache einer Symptomatik nahe, so kann dies den Blick nachvollziehbar auf andere Umstände verstellen, ohne dass hiermit ein Behandlungsfehler einhergehen muss.[497] Dem Arzt ist vielmehr bei seiner Diagnosestellung ein weiter Beurteilungs- und Bewertungsspielraum eröffnet.[498] Ein Behandlungsfehler[499] liegt erst dann vor, wenn dem Arzt bei seiner Fehldiagnose ein evidenter Irrtum unterläuft, so dass seine Fehlinterpretation als unvertretbar einzustufen ist.[500] Dies ist bspw. der Fall, wenn er ein aus ex-ante-Sicht (!)[501] eindeutiges Krankheitsbild verkennt oder ein von ihm erkanntes Krankheitsbild nach den Maßstäben der Schulmedizin unvertretbar[502] falsch deutet.[503] Durch diese Restriktion der Sorgfaltspflichtverletzung wird auch der Gefahr einer Überdiagnostik und einer defensiven, auf eingefahrene Methoden fixierten Therapie gegengesteuert.[504] Im Übrigen darf der Arzt umso eher auf belastende und kostspielige Diagnostik verzichten, je deutlicher sich eine Krankheit abzeichnet.[505] Kommt etwa ein Patient in einem unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand ins Krankenhaus, so dass ein Eingriff, soll er überhaupt noch Hilfe bringen, rasch erfolgen muss, so wird der Arzt unter Umständen auf eine Anamnese verzichten können bzw. sogar müssen, auch wenn er es darauf ankommen lassen muss, nicht zu wissen, ob körperliche Zustände des Kranken, die er nicht so schnell erforschen kann, die Gefahren des notwendigen Eingriffs erhöhen.[506] Der Arzt darf eine solche Gefahr in Kauf nehmen; bei ungünstigem Ausgang trifft ihn kein rechtlicher Vorwurf. – Ein Behandlungsfehler kommt namentlich dann in Betracht, wenn elementare Kontrollbefunde nicht erhoben werden oder die zunächst gestellte „Arbeitsdiagnose“ nicht überprüft wird.[507] Der Umfang des im Einzelfall gebotenen diagnostischen Aufwands hängt vom Ausmaß der drohenden Gesundheitsschäden, von ihrer Revisibilität sowie von der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts ab.[508] Auf dem Feld des zivilrechtlichen Schadensersatzes gilt es insoweit zwischen einem Diagnosefehler (Fehlinterpretation erhobener Befunde) einerseits, einem Befunderhebungsfehler[509] (Nichterheben der für eine korrekte Diagnose erforderlichen Befunde[510]) andererseits zu unterscheiden, da letztgenannter zu einer Beweislastumkehr für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen Behandlungsfehler und eingetretenem Gesundheitsschaden führt.[511] Für die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit spielt dies – ebenso wie eine Abgrenzung zwischen Befunderhebungsfehler und fehlerhafter therapeutischer Aufklärung[512] – angesichts des hier maßgebenden in-dubio-pro-reo-Grundsatzes keine Rolle.

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      Zu möglichen Behandlungsfehlern zählt auch eine fehlende oder unzureichende therapeutische Aufklärung.[513] Sie schützt – anders als die Selbstbestimmungsaufklärung[514] – i.d.R.[515] nicht das Selbstbestimmungsrecht des Patienten.[516] Sie soll vielmehr seine für den Heilerfolg erforderliche Kooperationsbereitschaft herstellen oder ihn zwecks Schadensabwehr i.S.e. „Sicherungsaufklärung“ (siehe auch § 630c Abs. 2 S. 1 BGB) vor Selbstgefährdungen bewahren, wie etwa[517] vor der Versäumung eines fristgebundenen Eingriffs.[518] Des Weiteren zählt hierzu die Information über die Dringlichkeit einer angeratenen diagnostischen Maßnahme[519] oder Nachuntersuchung[520] sowie die Unterrichtung des Patienten über die Risiken einer Dehydration nach Entlassung aus dem Krankenhaus.[521] Auch eine unterlassene Unterrichtung nachbehandelnder Ärzte zwecks Sicherung einer sachgerechten Nach- oder Weiterbehandlung fällt hierunter. Auf ein Ansteckungsrisiko für Dritte[522] ist ebenso hinzuweisen wie auf (unsichere) Wirkungen einer Behandlungsmethode oder eines Medikaments.[523]

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      Angesichts fachgebietsbezogener ärztlicher Spezialisierung ist bei der Patientenbehandlung ein arbeitsteiliges Vorgehen nicht nur unvermeidlich, sondern im Interesse einer bestmöglichen Patientenversorgung unerlässlich. Dies gilt nicht nur für fachübergreifendes ärztliches Zusammenwirken im Krankenhaus oder die Zusammenarbeit zwischen Belegarzt und Belegkrankenhaus,[524] sowie bei krankenhausärztlicher Überweisung an niedergelassene Ärzte zur Weiter- oder Mitbehandlung,[525] sondern auch für einen niedergelassenen Arzt, der bei alleiniger Behandlung nichtärztliche Hilfspersonen einschaltet, seinen Patienten an einen anderen Arzt zur Mit- oder Weiterbehandlung überweist oder aus dem Krankenhaus entlassene Patienten zur Weiterbehandlung übernimmt. Aus dieser dem Patienten nützlichen Arbeitsteilung ergeben sich aber auch spezielle Risiken, die aus mangelnder Kommunikation oder Koordination zwischen den beteiligten Personen im Behandlungsprozess resultieren.[526] Hier stellt sich die Frage, inwieweit ein Beteiligter nicht nur für von ihm selbst verschuldete Behandlungsfehler, sondern auch für die anderer Personen zur Verantwortung gezogen werden kann; mit den Worten von Hoyer: Der Organisationsfehler des einen liegt darin, dass er den Kunstfehler des anderen nicht verhindert, unter Umständen sogar durch seinen eigenen Arbeitsbeitrag erst ermöglicht hat.[527]

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      Allgemein anerkannt ist seit der Entscheidung der Vereinigten Großen Senate im Jahre 1954[528] die sorgfaltspflichtbegrenzende Wirkung des Vertrauensgrundsatzes im Straßenverkehr, nach dem jeder grundsätzlich auf verkehrsgerechtes Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer vertrauen darf; er muss mithin sein Verhalten nicht darauf einrichten, dass andere sich ordnungswidrig oder unvernünftig verhalten.[529] Dies leitet sich aus dem Gesichtspunkt fehlender unzulässiger Gefahrschaffung infolge erlaubten Risikos her[530] und soll verhindern, dass bei der Bestimmung der eigenen Handlungsweise Sorgfaltspflichtverletzungen anderer stets einzukalkulieren wären.[531] Der Anwendungsbereich des Vertrauensgrundsatzes blieb aber nicht auf das Verhalten im Straßenverkehr beschränkt, sondern führt überall dort zu einer Begrenzung der Sorgfaltsanforderungen, wo gefahrträchtige Handlungen arbeitsteilig vorgenommen werden.[532] Müsste jeder alles Kontrollierbare kontrollieren, so wäre Arbeitsteilung nicht möglich. Stattdessen hat jeder an einem arbeitsteiligen Geschehen Beteiligte nur bestimmte, in seinem Verantwortungsbereich liegende Umstände zu überwachen.[533] Einen wesentlichen Anwendungsfall stellt die ärztliche Heilbehandlung dar,[534] bei der – je nach fehlender oder gegebener Weisungsberechtigung und Weisungsgebundenheit – zwischen horizontaler und vertikaler Arbeitsteilung zu unterscheiden ist. Für beide Fallgestaltungen gilt, dass im Falle der Arbeitsteilung jeder Beteiligte in seinem Zuständigkeitsbereich in eigener Verantwortung tätig ist (Eigenverantwortungsprinzip).[535] Auf dessen Vorgehen lege artis dürfen sich die übrigen am Behandlungsprozess Beteiligten von Rechts wegen grundsätzlich verlassen, da andernfalls (also bei einer unbegrenzten allseitigen Überprüfungs- und Kontrollpflicht) die mit der Arbeitsteilung verbundenen, patientennützlichen Vorteile nicht zu erreichen wären.[536] Ohne den Vertrauensgrundsatz wäre arbeitsteiliges Zusammenwirken nicht zumutbar, da es mit dem Risiko verbunden