Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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Ursprünge der medizinischen Forschung reichen bis weit in die Antike zurück. So wiesen etwa bereits aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. berichtete Giftexperimente einen versuchsartigen Charakter auf.[6] Systematisch angelegte Versuchsreihen begegnen sodann vor allem seit dem 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Inokulation von Krankheitserregern. Beispielsweise wurde 1722 in England zum Tode Verurteilten die Möglichkeit eröffnet, an einer Impfung mit Pockenviren teilzunehmen und im Erfolgsfalle begnadigt zu werden.[7] In Preußen machte ein Zirkular des Innenministeriums aus dem Jahr 1891 die Behandlung von Gefangenen mit dem von Robert Koch entwickelten Tuberkulin ausdrücklich von deren Zustimmung abhängig;[8] eine Anweisung des Kultusministeriums aus dem Jahr 1900 unterstellte medizinische Forschungsvorhaben der Aufsicht des Klinikvorstehers, untersagte die Einbeziehung minderjähriger oder aus anderen Gründen geschäftsunfähiger Personen und verlangte eine „sachgemäße Belehrung“ sowie die Zustimmung der Teilnehmer.[9] Den Anlass für die Verabschiedung der letztgenannten Anweisung bildete der Fall des Venerologen Neisser (1855–1916), der 1892 im Rahmen einer Testreihe für ein von ihm entwickeltes Syphilis-Impfserum acht (zum Teil minderjährige) Patientinnen ohne deren Wissen den Syphiliserreger injiziert hatte, woraufhin vier der Frauen an Syphilis erkrankten.[10] Die durch das preußische Kultusministerium erlassene Anweisung vermochte allerdings das Vorgehen der Ärzteschaft bei der Erforschung neuer therapeutischer Verfahren kaum zu beeinflussen, wie beispielsweise die – häufig ohne Zustimmung der Betroffenen oder an Einwilligungsunfähigen vorgenommene – Erprobung des Syphilis-Präparates Salvarsan zu Beginn des Jahrhunderts zeigte.[11]

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      Erhebliches öffentliches Aufsehen erregte sodann der Lübecker Impfskandal, in dessen Verlauf im Februar 1930 aufgrund eines unreinen Bacillus-Calmette-Guérin-Vakzins 77 der 256 mit dem Impfstoff inokulierten Kinder an Tuberkulose verstarben. Im Nachgang zu diesem Skandal, der eine breite juristische und politische Aufarbeitung nach sich zog,[12] erließ das Reichsministerium des Innern im Jahr 1931 (freilich schon zuvor auf den Weg gebrachte) „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“.[13] Die Richtlinien, die der Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens in die Forschung am Menschen dienen sollten, verlangten eine sorgfältige Risiko-Nutzen-Abwägung und setzten voraus, dass neue Heilmethoden „in ihrer Begründung und ihrer Durchführung mit den Grundsätzen der ärztlichen Ethik und den Regeln der ärztlichen Kunst und Wissenschaft im Einklang stehen“. Normiert wurde auch ein grundsätzlicher Vorrang der Forschung an Tieren, die Verpflichtung zur Aufklärung der Probanden sowie eine Dokumentationspflicht; wissenschaftliche Versuche an Minderjährigen wurden stark eingeschränkt.[14] Im denkbar größten Kontrast zu den skizzierten Bemühungen um eine regulatorische Einhegung der medizinischen Forschung standen die verbrecherischen und menschenverachtenden Experimente in der Zeit des Nationalsozialismus, von denen u.a. der 1946–1947 vor dem 1. Amerikanischen Militärtribunal durchgeführte Nürnberger Ärzteprozess Zeugnis ablegt.[15] Erst die Reform des Arzneimittelgesetzes im Jahr 1976 implementierte sodann die umfassende klinische Prüfung als Voraussetzung für die Arzneimittelzulassung in das AMG. Das gesteigerte Interesse an einer sicheren Arzneimittelversorgung speiste sich ausweislich der Gesetzesbegründung maßgeblich aus den Erfahrungen im Zusammenhang mit dem sog. Contergan-Skandal.[16]

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      In Deutschland ist die medizinische Forschung in einer Reihe von Spezialgesetzen normiert; eine Regelung der Materie in einem umfassenden Gesetz existiert – anders als etwa in der Schweiz[17] – nicht. Dabei liegt die Gesetzgebungszuständigkeit für den Bereich der Forschung überwiegend beim Bund, während sich auf der Ebene des Landesrechts v.a. Regelungen zur Berufsausübung finden. Neben den spezialgesetzlichen Vorschriften gelangen in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch die allgemeinen Vorschriften des Zivilrechts, des Strafrechts und des öffentlichen Rechts zur Anwendung.[18] Begrifflich wird die medizinische Forschung in der Deklaration von Helsinki, der Strahlenschutzverordnung und in § 15 der Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte erwähnt, während das Arzneimittelgesetz sowie in der Vergangenheit auch das Medizinproduktegesetz (nunmehr: Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz[19]) – thematisch enger – von der „klinischen Prüfung“ sprechen. Die Biomedizinkonvention des Europarates erwähnt in Art. 15 die „wissenschaftliche Forschung im Bereich von Biologie und Medizin“; ihr drittes Zusatzprotokoll betrifft die „biomedizinische Forschung“.[20]

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      Bei der Biomedizinkonvention handelt es sich um ein 1997 vom Europarat verabschiedetes Rahmenübereinkommen. Völkerrechtliche Verbindlichkeit erlangt das Abkommen nur für diejenigen Staaten, die es unterzeichnet und ratifiziert haben.[24] Da man den Schutz, den die Konvention Einwilligungsunfähigen einräumt, für unzureichend erachtete, wurde sie von Deutschland bislang nicht gezeichnet; als Referenzrahmen kann ihr allerdings durchaus Bedeutung im europäischen Rechtsetzungsverfahren zukommen.[25] Derzeit existieren vier Zusatzprotokolle, welche die Konvention für unterschiedliche medizinische Teilbereiche konkretisieren und detailliertere Vorschriften, beispielsweise zur Aufklärung der Forschungsteilnehmer, enthalten.[26]

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      Standes- und berufsrechtliche Überzeugungen der Ärzteschaft zur medizinischen Forschung[27] sind in der 1964 vom Weltärztebund verabschiedeten und seitdem mehrfach revidierten Deklaration von Helsinki (DvH) normiert.[28] Inzwischen liegt die DvH in einer im Rahmen der 64. Generalversammlung des Weltärztebundes im Oktober 2013 in Fortaleza verabschiedeten zehnten Fassung vor.[29] Ziel der Deklaration von Helsinki ist es, die Qualität der Forschung und eine ausreichende Qualifikation der Forscher sicherzustellen.[30] Sie entfaltet zwar keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung in Deutschland; ihre Bedeutung als allgemeiner ethischer Referenzstandard sollte jedoch nicht unterschätzt werden,[31] und das Berufsrecht der Ärzteschaft nimmt sie in § 15 Abs. 3 MBO-Ä (bzw. in den wortgleichen Bestimmungen der Berufsordnungen der Landesärztekammern) in Bezug.[32] Zu berücksichtigen ist etwa auch, dass Ziff. 36 der DvH empfiehlt, Berichte über Forschungsprojekte, die den Grundsätzen der Deklaration zuwiderlaufen, von der Veröffentlichung auszuschließen. Richten sich maßgebliche Fachzeitschriften hiernach, so ist die Präsentation von Forschungsergebnissen, die unter Verstoß gegen Grundsätze der Deklaration gewonnen wurden, gegenüber der Öffentlichkeit zumindest stark erschwert.

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      Bestimmungen zum Zulassungsverfahren bei klinischen Arzneimittelprüfungen finden sich in den ICH-Richtlinien (International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use). Die Vorschriften gehen auf die Zusammenarbeit von europäischen, amerikanischen und japanischen Regulierungsbehörden mit Experten der Pharmaindustrie zurück und sollen zu einer Harmonisierung wissenschaftlicher und technischer Aspekte der Zulassung in den vorerwähnten Regionen