Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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am „Schwerpunkt“ der von dem behandelnden Arzt verfolgten Zwecksetzung finden lassen; liefe man doch bei dem Bemühen um eine möglichst eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Eingriffsarten Gefahr, wichtige Aspekte der jeweiligen Handlungssituation auszublenden. Den Vorzug verdient daher diejenige Sichtweise, die ein Nebeneinander von Heilversuch und Forschungseingriff innerhalb derselben Behandlungsmaßnahme in Betracht zieht; denn nur durch eine solche integrierende Betrachtungsweise erscheint sichergestellt, dass die angedeuteten, voneinander abweichenden Legitimationsanforderungen im konkreten Einzelfall Beachtung finden.[86] Beim Forschungseingriff im Rahmen einer Arzneimittelstudie, der auch Heilzwecke verfolgen kann (dies aber eben nicht zwingend muss), treten dann neben die Voraussetzungen des ärztlichen Heileingriffes die vor allem in den §§ 40 ff. AMG normierten Anforderungen an die Durchführung des Forschungsvorhabens und des konkreten Eingriffes, die ihren Grund in den Besonderheiten der Forschungssituation haben. Soweit in § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG der sog. Compassionate Use, bei dem schwer kranken Patienten unter bestimmten Voraussetzungen der Zugang zu noch in der Erprobung befindlichen Medikamenten eröffnet wird,[87] von der Zulassungspflicht befreit wird, steht nicht die systematische Gewinnung von Erkenntnissen über das Arzneimittel, sondern der Heilerfolg beim individuellen Patienten im Vordergrund.[88]

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      Die vorstehenden Erwägungen schließen es selbstverständlich nicht aus, dass in der Praxis auch Fälle vorkommen, die sich eindeutig als Heilversuch oder als Forschungseingriff einordnen lassen und infolgedessen ausschließlich an den insofern einschlägigen Legitimationsanforderungen zu messen sind: So ist etwa der ohne jeden Gedanken an einen über den Einzelfall hinausweisenden Erkenntnisgewinn vorgenommene individuelle Heilversuch ebenso denkbar wie die Durchführung einer sog. Phase-I-Studie mit gesunden Probanden, die der Überprüfung der Verträglichkeit und der Wirkungen des Medikaments auf den Organismus und damit ausschließlich Forschungszwecken dient.[89] Unter Umständen lassen sich schließlich auch innerhalb eines einheitlichen Behandlungsgeschehens einzelne Maßnahmen mit unterschiedlicher Zwecksetzung identifizieren, die dann an den für die jeweilige Form der Versuchsbehandlung maßgeblichen Maßstäben zu messen sind.[90]

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      Ein zentrales Element der Rechtfertigung von Versuchsbehandlungen bildet die bereits in den eingangs (vgl. Rn. 4) erwähnten Richtlinien des Reichsministeriums des Innern aus dem Jahr 1931 vorausgesetzte Risiko-Nutzen-Abwägung, die überdies zu einem bestimmten Abwägungsergebnis führen muss.[91] Auch die Einwilligung des aufgeklärten Patienten bzw. Probanden (der sog. informed consent) befreit grundsätzlich nicht von dem Erfordernis eines angemessenen Verhältnisses zwischen drohenden Schäden und zu erwartendem Nutzen.[92] Art. 28 Abs. 1 lit. e der VO (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln definiert darüber hinaus ein absolutes Schutzniveau mit der Forderung, klinische Prüfungen müssten so geplant werden, „dass sie mit möglichst wenig Schmerzen, Beschwerden, Angst und allen anderen vorhersehbaren Risiken für die Prüfungsteilnehmer verbunden (sind) und sowohl die Risikoschwelle als auch das Ausmaß der Belastung im Prüfplan eigens definiert und ständig überprüft werden“ (ebenso Art. 62 Abs. 4 lit. i der Medizinprodukte-VO [EU] 2017/745).[93] Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist ein Heilversuch nur indiziert, „wenn die verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode rechtfertigt“.[94] Die Risiko-Nutzen-Abwägung wird hier mithin in die medizinische Indikationsstellung integriert.

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      Bei der rechtlichen Beurteilung von Forschungseingriffen werden mit dem Fremd-, dem Eigen- und dem Gruppennutzen drei verschiedene Formen der Nutzenallokation unterschieden, wobei als ausschlaggebend für die (auch rechtlich bedeutsame) Einordnung eine ex ante-Beurteilung des jeweiligen Einzelfalles auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Prognose gilt.[95] Ungeachtet allfälliger Überschneidungen und Trennungsunschärfen der verwendeten Kategorien versteht man unter einem Fremdnutzen denjenigen Nutzen, der sich nicht für den einzelnen Studienteilnehmer, sondern ausschließlich für Dritte – insbesondere für zukünftige Patienten, denen das zu erprobende Präparat zugutekommen soll – ergibt. Demgegenüber besteht der Eigennutzen im individuellen (gesundheitlichen) Nutzen des Teilnehmers selbst; ein Eigennutzen ist mithin nur dann gegeben, wenn die Teilnahme einen therapeutischen, diagnostischen oder präventiven Nutzen mit sich bringt. Maßgebliche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der medizinischen Indikation zu; der Eigennutzen muss sich unmittelbar aus der Anwendung des Arzneimittels oder Medizinprodukts im Rahmen der Studie ergeben und darf nicht lediglich in einer möglichen späteren Partizipation an dem erhofften wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bestehen.[96] Unter dem Gruppennutzen wird schließlich der Nutzen verstanden, der einem bestimmbaren Personenkreis zugutekommt, zu dem auch der Studienteilnehmer gehört. Zu denken ist hier grundsätzlich an nach Studienende zur Verfügung stehende verbesserte Diagnose- und Behandlungsoptionen, aber auch an Fortschritte bei der Krankheitserforschung, die ihrerseits als Ausgangspunkt für anwendungsorientierte Forschung dienen können.[97] Vor diesem Hintergrund kann man von einer privilegierten Form des Fremdnutzens sprechen.[98]

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      Auf das Legitimationsprinzip des Gruppennutzens hat der deutsche Gesetzgeber bislang eher zurückhaltend und lediglich für einen Teilbereich der klinischen Prüfung von Arzneimitteln zurückgegriffen (vgl. § 41 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Abs. 2 S. 1 Nr. 2a AMG für einwilligungsfähige Erwachsene und Minderjährige). Eine tendenziell großzügigere Verwendung hat das Prinzip des Gruppennutzens auf europäischer und internationaler Ebene gefunden; dies gilt insbesondere für Studien mit nicht einwilligungsfähigen Personen (vgl. z.B. Ziff. 28 DvH sowie Art. 17 Abs. 2 der – von Deutschland bislang nicht unterzeichneten – Biomedizinkonvention des Europarates[101]). Die VO (EU) 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln macht ebenfalls an verschiedenen Stellen Gebrauch vom Legitimationsprinzip des Gruppennutzens: Danach kann ein Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe klinische