Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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auszurichten, dass er nicht an der klinischen Prüfung teilnehmen will, oder bringt er dies in sonstiger Weise zum Ausdruck, so gilt dies nach § 40b Abs. 3 S. 2 AMG n.F. als ausdrücklicher Wunsch i.S.d. Art. 31 Abs. 1 lit. c VO (EU) Nr. 536/2014.[320] Gemäß Art. 32 Abs. 1 lit. g ii der VO (EU) Nr. 536/2014 bleibt auch die Möglichkeit einer gruppennützigen Forschung an Minderjährigen bestehen; bei Minderjährigen, die nach Erreichen der Volljährigkeit einwilligungsunfähig sein werden, ist eine gruppennützige klinische Prüfung nach § 40b Abs. 4 S. 9 AMG n.F. allerdings auch weiterhin ausgeschlossen (vgl. dazu bereits Rn. 70).

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      Mitunter kontroverse Diskussionen werden in Bezug auf die Forschung mit Leichen und Leichenteilen geführt. Hierbei ist der jeweilige Kulturkreis maßgeblich, wenn es um die Einhaltung der Pietätsgrenzen geht.[321] Besonders kritisch wird beispielsweise der Einsatz von Leichen bei sog. Crash-Tests gesehen, im Rahmen derer die bei Unfällen auf den Körper einwirkenden Kräfte analysiert werden. Daneben werden an Leichen etwa auch neue operative Techniken erprobt, Schussversuche im rechtsmedizinischen Forschungsinteresse durchgeführt oder biomechanische Tests zur Erprobung von Medizinprodukten (z.B. Schrauben oder Klammern) durchgeführt.[322] Ein derartiges Vorgehen wird als unerlässlich angesehen, da artifizielle Ersatzmethoden keine befriedigenden Ergebnisse zu generieren vermögen;[323] die rechtliche und medizinethische Bewertung ist gleichwohl umstritten.[324]

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      Die Regelung des Sektions- und des Leichenschauwesens, des Bestattungs- und des Friedhofswesens fällt gemäß Art. 70 Abs. 1 GG in die Gesetzgebungskompetenz der Länder.[325] Dementsprechend existieren divergierende landesrechtliche Regelungen in Bezug auf Sektionen und anderweitige Leichenversuche zu Forschungszwecken. Darüber hinaus finden sich allgemeine Vorschriften zum Umgang mit Leichen auch in bundesgesetzlichen Vorschriften des Straf- und Strafprozessrechts, des Transplantationsgesetzes, des Infektionsschutzgesetzes sowie des Personenstandsgesetzes; hinzu kommen Regelungen im Berufsrecht der Ärzte, Leitlinien und Empfehlungen. Zur Forschung an Leichen und Leichenteilen schweigen die meisten Regelwerke indes.

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      Grundsätzlich unproblematisch sind Forschungsmaßnahmen an Leichen dann, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten explizit in die postmortale Verwendung zu Forschungszwecken eingewilligt hat.[326] Möglich ist auch eine Zustimmung durch die totensorgeberechtigten Angehörigen; bei einem Konflikt zwischen deren Willen und dem zu Lebzeiten artikulierten Willen des Verstorbenen kommt allerdings letzterem der Vorrang zu.[327] Voraussetzung für die Durchführung von Forschungseingriffen ist der Abschluss eines Probandenvertrags; die Zulässigkeit entsprechender Eingriffe ergibt sich nicht bereits aus der in den AVB der Krankenhäuser enthaltenen Sektionsklausel oder aus einem strafprozessualen Sektionsauftrag gemäß § 87 StPO.[328]

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      Bei eigenmächtig – d.h. ohne wirksame Zustimmung des Berechtigten – durchgeführten Sektionen zu Forschungszwecken kommt eine Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung (§ 303 StGB) oder Störung der Totenruhe (§ 168 StGB) in Betracht; darüber hinaus kann auch der nach § 203 Abs. 5 StGB über den Tod eines Patienten hinausgehende strafrechtliche Schutz der ärztlichen Schweigepflicht betroffen sein.[329]

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      Ob und inwieweit der eigenmächtige Umgang mit Leichen als Sachbeschädigung i.S.d. § 303 StGB zu qualifizieren ist, hängt zunächst davon ab, ob die Leiche als Sache i.S.d. § 90 BGB einzuordnen ist. Hierüber besteht seit langem Streit;[330] während die Anhänger eines vorwiegend im Zivilrecht vertretenen persönlichkeitsrechtlichen Ansatzes im Leichnam einen Rückstand der Persönlichkeit des Verstorbenen sehen und infolgedessen eine Sacheigenschaft – anders als bei heraus- oder abnehmbaren (künstlichen) Körperteilen[331] – verneinen,[332] bejaht die im Strafrecht vorherrschende, sachenrechtliche Auffassung zwar die Sachqualität des Leichnams, schließt diesen jedoch durch die Einordnung als herrenlos sogleich wieder aus dem Anwendungsbereich des § 303 StGB aus.[333] Eine Ausnahme wird von Vertretern beider Meinungslager[334] für Leichen gemacht, die – etwa als Exponate in einem Museum – nicht mehr zur Bestattung bestimmt sind, was allerdings aufgrund des potentiell diskriminierenden Charakters dieser Unterscheidung zu Recht kritisiert wird.[335]

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      In Betracht zu ziehen ist des Weiteren eine Strafbarkeit wegen Störung der Totenruhe gemäß § 168 Abs. 1 StGB. Schutzobjekte des § 168 StGB sind der Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, die tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen.[336] Nach h.M. endet der Schutz der vorerwähnten Tatobjekte durch § 168 StGB, wenn diese in erlaubter Weise dem Rechtsverkehr zugeführt werden, wie dies etwa bei Anatomieleichen der Fall ist.[337] Nach herrschender, wenngleich nicht unbestrittener Ansicht ist auch der den Verbrennungsresten Verstorbener entnommene Zahngoldbruch als „Asche“ i.S.v. § 168 Abs. 1 StGB einzuordnen.[338]

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      Als Tathandlungen unterscheidet § 168 StGB die Wegnahme aus dem Gewahrsam des Berechtigten und das Verüben von beschimpfendem Unfug an dem Tatobjekt. Für den vorliegenden Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass für die Beurteilung der Gewahrsamsverhältnisse am Leichnam und seinen Teilen nach h.M. auf die tatsächlichen Obhutsverhältnisse abzustellen ist,[339] die regelmäßig den Krankenhausträger oder das jeweilige Institut als Inhaber des Gewahrsams an einem im Krankenhaus Verstorbenen ausweisen. Bei der Verwendung von bereits sezierten Leichen(teilen) zu Forschungszwecken ohne Einwilligung des Verstorbenen oder der Totenfürsorgeberechtigten kommt § 168 StGB daher nicht zur Anwendung; denn es fehlt an einem Gewahrsamsbruch, wenn die Leiche im tatsächlichen Herrschafts- und Verfügungsbereich des Instituts verbleibt.[340] Zudem ist die Forschung nicht Ausdruck der Verachtung[341] und kann damit nicht als beschimpfender Unfug gewertet werden, wobei es auf das subjektive Pietätsempfinden der Angehörigen nach h.M. nicht ankommt.[342]

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      Wie bereits dargelegt, sind die Voraussetzungen und Grenzen der Forschung mit Leichen und Leichenteilen gesetzlich nur unzureichend geregelt; die landesrechtlichen Vorschriften zum Leichen-, Friedhofs- und Bestattungswesen weisen insofern eine sehr unterschiedliche Regelungsdichte auf. In Hamburg und in Mecklenburg-Vorpommern existieren explizite Regelungen zu Experimenten mit Leichen; andere Landesgesetze regeln ausschließlich die Sektion, die indes nicht die hier in Rede stehenden Versuchskonstellationen erfasst.[343] Nach § 10 Abs. 5 S. 1 HmbBestattG dürfen Leichen wissenschaftlichen Zwecken nur zugeführt werden, wenn eine schriftliche Zustimmung des Verstorbenen vorliegt und die Voraussetzungen für eine Erd- und Feuerbestattung vorliegen (ähnlich § 5 Abs. 3 BestattG MV). Fehlgeburten und Ungeborene dürfen nach § 30 Abs. 4 S. 2 BestattG BW nur nach vorheriger Zustimmung beider Elternteile wissenschaftlichen Zwecken zugeführt werden. Verstöße hiergegen können gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 14 BestattG BW als Ordnungswidrigkeit geahndet werden; den übrigen erwähnten Zustimmungserfordernissen kommt hingegen lediglich eine appellative Ordnungsfunktion zu.[344] Ein zu Lebzeiten getroffener, entgeltlicher Vertrag mit dem Inhalt, dem anatomischen Institut oder einem Forschungsunternehmen das Totensorgerecht zu übertragen, wird unter der Prämisse als zulässig angesehen, dass die schuldrechtliche Vereinbarung keine uneingeschränkte Bindungswirkung entfaltet und der sich zur Überlassung Verpflichtende im Falle des Widerrufs keine Inanspruchnahme wegen Vertragsverletzung zu gewärtigen hat. Für den Vertragspartner birgt dies allerdings