Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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auch mit genomweiten Assoziationsstudien (GWAS). Bei diesem populären Studiendesign genetischer Epidemiologie besteht das Ziel in der Identifizierung genetischer Polymorphismen, die wiederum mit einer konkreten pathologischen Veränderung im Zusammenhang stehen. Mithilfe eines punktuellen Vergleichs der DNA-Sequenz an mehreren unterschiedlichen Loci bei vielen (nicht) erkrankten Personen kann ein Nachweis über die Genotyp-Phänotyp-Beziehung erbracht werden. Die präzise Aufklärung der kausalen Beziehung zwischen der getesteten Erkrankung und dem Polymorphismus ist regelmäßig Gegenstand weiterführender wissenschaftlicher Untersuchungen.[373] GWAS profitieren von der gemeinsamen Datennutzung großer, meist sogar internationaler Forschungskonsortien. Damit verbunden ist eine zumeist eingeschränkte Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts durch die Studienteilnehmer, nicht zuletzt mit Blick auf den möglichen Widerruf einer einmal erteilten Einwilligung.[374]

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      Angesichts der disparaten, teilweise lückenhaften Regelungen und der erheblichen Grundrechtsrelevanz entsprechender Forschungsvorhaben wäre eine Zusammenführung der forschungsbezogenen Regelungsgegenstände in einem Biobankgesetz wünschenswert.[375]

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      Von ungeminderter Aktualität ist die Diskussion um die Stammzell- und Embryonenforschung in der Pränidationsphase.[376] Stammzellen sind in § 3 Nr. 1 StZG legaldefiniert; bei ihnen handelt es sich um Ursprungszellen, aus denen sich teils hochdifferenzierte Zellen mit Spezialfunktionen bilden können. Sog. totipotente Stammzellen sind selbst noch nicht ausdifferenziert und können sich deshalb zum lebensfähigen, menschlichen Individuum entwickeln (§ 3 Nr. 4 StZG).[377] Wegen ihrer Fähigkeit, spezialisierte Tochterzellen zu produzieren, sind auch die sog. pluripotenten Stammzellen Gegenstand der medizinischen Forschung, wenngleich sie hinsichtlich ihres Entwicklungspotentials auf vorprogrammierte Gewebe- oder Organsysteme begrenzt sind.[378] Die medizinische Stammzellforschung soll insbesondere im Zusammenhang mit Zell- und Organtransplantationen neue Zukunftsperspektiven für die Behandlung von Erkrankungen wie etwa Parkinsonkrankheit, Herzversagen oder Querschnittslähmung eröffnen.[379] Die Stammzelltherapie mit adulten Stammzellen kommt etwa bei der Behandlung von Leukämiekranken schon seit vielen Jahren erfolgreich zur Anwendung.[380]

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      Für die (straf-)rechtliche Bewertung der Stammzellforschung ist der Weg von besonderer Bedeutung, auf dem die verwendeten Stammzellen gewonnen wurden.[381]

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      Strafrechtlich kaum brisant ist die Gewinnung von Stammzellen aus adultem Gewebe oder aus Nabelschnurblut. Hierbei ist lediglich zu beachten, dass die Person, deren Stammzellen entnommen werden, wie bei allen ärztlichen Eingriffen aufgeklärt worden sein und in die Entnahme eingewilligt haben muss. Adressatin der Aufklärung ist bei der Entnahme von Stammzellen aus der Nabelschnur die Mutter; außerdem muss eine Verletzung des Säuglings bei der Stammzellgewinnung ausgeschlossen sein.[382]

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      Werden die Stammzellen aus den Keimzellen abgetriebener Feten gewonnen, setzt dies zusätzlich zur Einwilligung der Mutter noch die Genehmigung der zuständigen Ethikkommission voraus (§ 15 Abs. 1 MBO-Ä). In ethischer Hinsicht sind hier vor allem die (zumindest theoretisch denkbaren) Fälle problematisch, in denen die Abtreibungsentscheidung in einem Zusammenhang zur Stammzellgewinnung stand. Der Anwendungsbereich des Organhandelsverbotes gemäß §§ 17, 18 TPG ist hingegen nicht eröffnet, da dieses nach § 17 Abs. 1 S. 1 TPG nur für Organe und Gewebe gilt, die einer Heilbehandlung eines anderen zu dienen bestimmt sind.[383] Rechtlich zulässig und wissenschaftlich zukunftsweisend ist darüber hinaus auch die Gewinnung sog. humaner induzierter pluripotenter Stammzellen (hiPS-Zellen) mittels Reprogrammierung somatischer Zellen (vgl. Rn. 111).[384]

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      Fraglich ist, ob überzählige bzw. verworfene Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen genutzt[388] oder ob gar Embryonen ausschließlich zu diesem Zweck erzeugt werden dürfen. Gegenüber adulten – d.h. den Geweben des postnatalen Organismus entstammenden – Stammzellen haben humane embryonale Stammzellen (hES-Zellen) den Vorteil, dass sie unter optimalen Bedingungen in vitro fast unbegrenzt repliziert werden und sich in jeglichen Zelltyp ausdifferenzieren können.[389] § 2 Abs. 1 ESchG bedroht jedoch die Verwendung eines Embryos „zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck“ – und damit auch die (mit der Vernichtung des Embryos verbundene) Gewinnung von Stammzellen aus Embryonen[390] – mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe. Darüber hinaus gestattet § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG die künstliche Befruchtung von Eizellen nur, wenn diese der Herbeiführung einer Schwangerschaft dient, und verbietet damit die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken.[391] Der räumliche Geltungsbereich dieser Vorschriften orientiert sich an den §§ 3 ff. StGB (vgl. Art. 1 Abs. 1 EGStGB). Nach dem in § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB verankerten aktiven Personalitätsprinzip macht sich daher ein Deutscher, der sich im Ausland an der Herstellung von heS-Zellen zu Forschungszwecken beteiligt, nur dann gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1 ESchG strafbar, wenn die Tat auch am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Gemäß § 9 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 StGB entfällt das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit allerdings, wenn der an einer Auslandstat Beteiligte im Inland gehandelt hat.[392]

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      Embryonen, die in vitro erzeugt wurden, genießen somit nach derzeitiger Rechtslage einen früher einsetzenden Lebensschutz als in vivo entstandene Embryonen, deren Schutz gemäß § 218 Abs. 1 S. 2 StGB erst mit der Nidation beginnt und überdies durch § 218a StGB eingeschränkt wird.[393] Der weitergehende Schutz in vitro erzeugter Embryonen wird teilweise damit begründet, dass diesen eine durch die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) absolut geschützte Subjektqualität zuzusprechen sei. Die überwiegende Ansicht lehnt einen solchen absoluten Schutz aber nicht zuletzt unter Hinweis auf die zulässigen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung zu Recht ab, weil damit eine gleichheitswidrige Differenzierung zwischen Embryonen in vitro und solchen in vivo gegeben wäre.[394] Auch das Bundesverfassungsgericht hat bislang offen gelassen, ob dem Embryo bereits in der Pränidationsphase Menschenwürde zukommt.[395] Im Übrigen wird der Lebensschutz (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) des künstlich erzeugten Embryos offenbar nicht absolut verstanden; insbesondere dürfen nicht für eine Schwangerschaft benötigte überzählige Embryonen verworfen werden.[396]

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      Um Standortnachteile für die medizinische Forschung zu vermeiden, hat sich der deutsche Gesetzgeber zu einer Kompromisslösung durchgerungen, die es erlaubt, unter bestimmten einschränkenden Bedingungen aus Embryonen gewonnene Stammzellen nach Deutschland zu importieren. Zwar enthält § 4 Abs.