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Handbuch des Verwaltungsrechts


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kann, an das Unionsrecht mit denselben methodischen Instrumenten, Anwendungsroutinen und Prämissen heranzugehen, wie sie aus dem jeweiligen nationalen Recht bekannt sind.[283] Diese sind nicht allgemeingültig. Tatsächlich bestehen in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche „Methodenkulturen“[284] als implizites Wissen, das Grundlage der täglichen Rechtsarbeit ist. Dies ist auch durch unterschiedliche Ausbildungsziele der Juristenausbildung[285] und den unterschiedlichen Stellenwert der „Rechtsausbildung“ bei Führungskräften der Verwaltung bedingt. Dies wiederum ist Ausdruck unterschiedlicher Verständnisse von den Aufgaben und Funktionen des Rechts im Allgemeinen und des Verwaltungsrechts im Besonderen, des Verhältnisses und der Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit insbesondere in Bezug auf die Definition von Staats- und Verwaltungsaufgaben und die bei ihrer Erfüllung zu beachtenden Bindungen. Die sich hieraus ergebenden Unterschiede im (Verwaltungs-)Rechtsdenken zwischen den Mitgliedstaaten der Union sind erheblich.[286] Dies wirkt sich auch auf das Verständnis der Intensität der Bindungs- und Steuerungswirkung des Gesetzes gegenüber dem Verwaltungshandeln aus und schlägt gerade deshalb auf die täglichen Rechtsanwendungsroutinen durch.[287] Daraus folgt das bekannte Phänomen, dass derselbe Text von Rechtsanwendern unterschiedlicher Herkunft aufgrund unterschiedlicher Rechtsanwendungsroutinen unterschiedlich ausgelegt und auch seine Bindungswirkung für den Bürger, die Verwaltung und die Gerichte unterschiedlich bestimmt werden wird.

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      Fehlen unionsweit einheitlicher Rechtsanwendungsroutinen?

      Zur Gewährleistung eines unionsweit einheitlichen Verständnisses des Unionsrechts müssten deshalb die nationalen Gerichte und Behörden „an sich“ der Arbeit mit dem Unionsrecht unionsweit einheitliche Anwendungs- und Auslegungsroutinen zugrunde legen, die sich von denjenigen, die die Mitgliedstaaten jeweils für den Umgang mit ihrem eigenen Recht entwickelt haben, unterscheiden würden. Solche unionsweit einheitlichen Anwendungs- und Auslegungsroutinen haben sich jedoch bisher nicht herausgebildet. Die Vermittlung unionsrechtlicher Kenntnisse findet im Rahmen der nationalen Juristenaus- und -weiterbildungsprogramme statt, sodass auch insoweit das Unionsrecht in den nationalen Verständniskontext eingebunden ist. Demensprechend ist selbst die Europarechtswissenschaft bisher eher „national“ organisiert und es baut sich ein unionsweiter wissenschaftlicher Diskurs über Fragen des Unionsrechts (insbesondere auch darüber, wie einzelne konkrete Sekundärrechtsakte zu verstehen sind) erst langsam auf.[288] Angesichts dessen kann die rechtsprechende Tätigkeit des EuGH für sich allein die nationalen Routinen im Umgang mit dem Unionsrecht nicht durchdringen. Umgekehrt bedeutet das Fehlen unionsweit einheitlicher Anwendungs- und Auslegungsroutinen für Unionsrechtsakte aber auch, dass die an dem Rechtssetzungsverfahren auf Unionsebene beteiligten Akteure sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben werden, welchen Anwendungsbereich und welche Bindungswirkung die neu geschaffenen Regelungen haben werden. Dies impliziert eine wesentlich größere Bandbreite „vertretbarer“ Auslegungsmöglichkeiten von Unionsrechtsakten als dies vor dem Hintergrund deutscher Rechtsanwendungsroutinen von einem deutschen Rechtsanwender erwartet wird. Entscheidend für den Umgang mit dem Unionsrecht ist daher für die primär im Umgang mit dem nationalen Recht ausgebildeten Juristen „die Phantasie anzunehmen, daß alles anders sein kann“.[289] Dazu gehört für deutsche Juristen auch die Erkenntnis, dass die letztlich auf dem „Ideal der einzig richtigen Entscheidung“ und der Trennung von Tatbestand und Rechtsfolge beruhenden deutschen Rechtsanwendungsroutinen in den wohl meisten Mitgliedstaaten der Rechtsarbeit nicht (oder jedenfalls nicht in dieser Rigidität) zugrunde gelegt werden.

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      Gebundene Verwaltung im Unionsrecht?

      Wichtige Auswirkungen hat dies etwa für die Frage, ob und inwieweit das Unionsrecht etwas kennt, das dem deutschen Konzept der gebundenen Verwaltung entspricht. Dieses deutsche Konzept der gebundenen Verwaltung beruht eben auf der Annahme, der Gesetzgeber könne der Verwaltung „punktgenau“ vorschreiben, wie sie in einem konkreten Sachverhalt zu entscheiden habe, da das Gesetz – soweit die Bindung reicht – für jeden denkbaren Sachverhalt nur eine einzig rechtlich „richtige“ Entscheidung vorgebe.[290] Eine solche Intensität der Gesetzesbindung der Verwaltung ist nur vorstellbar, wenn und soweit sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle nicht darauf beschränkt, die „Vertretbarkeit“ einer behördlichen Entscheidung zu überprüfen, sondern geprüft wird, ob die Behörde so entschieden hat, wie das Gericht – die behördliche Entscheidung nachvollziehend[291] – entschieden hätte, das Gericht also seine Auffassung von der richtigen Sachentscheidung an die Stelle der Auffassung der Behörde setzen kann. Erst eine solche Kontrolle ermöglicht die Vermutung, dass die gesetzlichen Vorgaben die Verwaltung tatsächlich entsprechend intensiv binden, weil sie eine Kongruenz zwischen behördlicher Rechtsbindung und gerichtlicher Kontrolle herstellt.[292] Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft Verwaltung vor allem als Gesetzesvollzug versteht. Dem Verwaltungsrechtsdenken der meisten Mitgliedstaaten entspricht demgegenüber die Annahme, dass sich der Gesetzgeber darauf beschränken sollte, im Gesetz Politikziele zu formulieren, deren Umsetzung durch die Verwaltung vor allem als Managementaufgabe verstanden wird. Dann werden – durchaus weite – Entscheidungsspielräume der Verwaltung die Regel sein.[293] Dies erlaubt die Vermutung, dass der Unionsgesetzgeber bei der Formulierung einer Verpflichtung der Verwaltung oft einen (gerichtlich nicht überprüfbaren) Entscheidungsspielraum der Verwaltung „mitdenkt“, auch wenn dies im Wortlaut des anzuwendenden Unionsrechtsakts bei „deutscher Lesart“ nicht zum Ausdruck kommt.[294] Umgekehrt kann ein Unionsrechtsakt (indirekt) nicht-gebundene Verwaltung voraussetzen, auch wenn er nach deutscher Lesart nur Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthält, ohne materiell-rechtliche Anforderungen an das Entscheidungsergebnis aufzustellen.[295]

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      Notwendigkeit eines Generalumbaus des deutschen Verwaltungsrechts?

      Dies wirft die Frage auf, ob und in welchem Umfang die in den 1950er und 1960er Jahren aus dem Grundgesetz hergeleiteten Vorgaben für eine umfassende Vergesetzlichung der Verwaltungstätigkeit unter strenger Gerichtskontrolle[296] eine tragfähige Grundlage für die Mitwirkung der deutschen Verwaltung in der Europäischen Union bilden können. Allgemeine Forderungen nach genereller Rücknahme der Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte oder nach noch weitergehenden Totalumbauten des deutschen Verwaltungsrechtssystems sind hier jedoch nicht indiziert. Zutreffend ist, dass hochspezialisierte (Bundes-)Fachbehörden (z. B. Bundesnetzagentur, Bundeskartellamt, Bundesanstalt für Finanzdienstleitungen, Umweltbundesamt als zuständige Behörde für den Emmissionshandel, Zollverwaltung) aufgrund unionsrechtlicher Vorschriften in europäische Behördennetzwerke eingebunden und insoweit aus der nationalen „Verwaltungshierarchie“ herausgelöst werden, insbesondere, wenn Unionsrecht den Mitgliedstaaten zusätzlich vorschreibt, dass sie diesen Behörden weitgehende Unabhängigkeit gewähren sollen.[297] Dies führt dazu, dass diese Behörden vielfach als Europäische Verbundverwaltung agieren (sich insoweit auch von den nationalen Rechtsanwendungsroutinen und Vorverständnissen lösen) und daher tatsächlich vom deutschen Verwaltungsrecht und dem ihm zugrunde liegenden Rechtsverständnis nur noch eingeschränkt erreicht werden.[298] Die Masse der deutschen Behörden (insbesondere auf Landes- und Kommunalebene) ist jedoch mit dem Unionsrecht vornehmlich in Form des „respektierenden Vollzugs“ befasst.[299] Hiermit korrespondiert, dass – mit Ausnahme des Umweltrechts – auch die „klassischen“ Referenzgebiete des besonderen Verwaltungsrechts[300] sowie das Schul- und Hochschulrecht, das sonstige Kulturverwaltungsrecht oder auch das Sozial- und Einkommenssteuerrecht nach wie vor nur in abgrenzbaren Bereichen (insbesondere wenn es um grenzüberschreitende Bezüge und Wettbewerbsneutralität geht) unionsrechtlich beeinflusst sind. Das Unionsrecht zwingt daher nicht dazu, die von Rechtsprechung, Literatur und Gesetzgebung gemeinsam erarbeiteten Grundlagen des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtsdogmatik der Bundesrepublik Deutschland flächendeckend in Frage zu stellen und umzubauen. Tatsächlich sind und konnten etwa die oben dargestellten Verwaltungs(rechts)reformen der 1990er, 2000er und 2010er Jahre (mit Ausnahme der Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsmaßnahmen[301] und des Ausbaus des Regulierungsrechts[302]) weitgehend unabhängig von unionsrechtlichen Impulsen durchgeführt werden. Dies belegt, dass der Raum für nationale Politik- und Rechtsgestaltung im Verwaltungsrecht wesentlich größer ist