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Handbuch des Verwaltungsrechts


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auf Unionsebene besteht ein erheblicher Bedarf, den Vollzug des Unionsrechts zu steuern. Im Bereich des direkten Vollzugs ermöglichen dies Mitteilungen und Leitlinien der Kommission.[213] Dass sie nicht im Katalog des Art. 288 AEUV genannt werden, ist unerheblich, weil sie – jenseits einer anderen expliziten primärrechtlichen Verankerung[214] – prinzipiell rechtlich unverbindlich sein sollen. Ähnlich wie Verwaltungsvorschriften im deutschen Recht soll ihnen aber doch eine mittelbare rechtliche Verbindlichkeit zukommen. Begründet wird diese über den Gleichheitssatz sowie den Grundsatz des Vertrauensschutzes.[215] Funktionale Äquivalente zu den deutschen Verwaltungsvorschriften sind seit dem Vertrag von Lissabon im Bereich des indirekten Vollzugs die Durchführungsrechtsakte (Art. 291 AEUV), die an die Stelle des früheren Komitologieverfahrens getreten sind und grundsätzlich von der Kommission erlassen werden (Art. 291 Abs. 2 AEUV).[216] Die Kontrolle der Kommission bei der Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Mitgliedstaaten bestimmt sich nach der neuen Komitologieverordnung (VO (EU) 182/2011)[217], die auf Grundlage des Art. 291 Abs. 3 AEUV erlassen worden ist. Die Durchführungsmaßnahmen müssen im Basisrechtsakt vorgesehen sein. Ihnen kommt dann Außenverbindlichkeit zu.[218] Dies unterscheidet sie von den unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 288 Abs. 5 AEUV). Nach der Rechtsprechung des EuGH sollen die nationalen Gerichte gleichwohl verpflichtet sein, diese bei der Auslegung zu berücksichtigen.[219]

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      Gewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze, Richterrecht

      Weite Teile des geltenden Rechts werden nicht in förmlichen Rechtssetzungsverfahren in Kraft gesetzt. Erscheinungsformen dieses ungeschriebenen Rechts sind das Gewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze sowie das Richterrecht. Dass sie keinen Eingang in amtliche Verkündungsblätter finden, macht das ungeschriebene Recht schwer greifbar. Anzutreffen ist es in allen Rechtskreisen. In der Regel begegnet das ungeschriebene Recht den Rechtsunterworfenen in verbindlichen Entscheidungen der Judikative. Dies erklärt, warum sich die Kategorien überschneiden und das Richterrecht vielfach als die zentrale Rechtsquelle des ungeschriebenen Rechts angesehen wird. Die mit dem ungeschriebenen Recht verbundenen Deutungs- und Interpretationsspielräume ermöglichen ihm, sich flexibel an veränderte Umstände anzupassen.[220] Demokratisch ist es vergleichsweise schwach legitimiert.[221] Die Rechtssetzung vollzieht sich dezentral und weitgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit. Der in sie eingehende Sachverstand beruht im Wesentlichen auf Milieukenntnis, was in der Regel hinter dem förmlicher Rechtssetzungsverfahren zurückbleibt.[222] Die Gerichte, die für weite Teile des ungeschriebenen Rechts verantwortlich sind, sind allein Gesetz und Recht unterworfen und – aus guten Gründen – durch die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG, Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh) vor einer direkten Intervention der anderen Gewalten geschützt. Ungeachtet dieser rechtsstaatlichen und demokratischen Schwächen ist das ungeschriebene Recht für das Funktionieren einer Rechtsordnung unentbehrlich. Kein Gesetzgeber ist in der Lage, zukünftige Entwicklungen vorherzusagen.[223] Die große Leistung ungeschriebener Rechtsregeln besteht gerade darin, gleichwohl für relative Rechtssicherheit zu sorgen. Größere legitimatorische Probleme entstehen nur dann, wenn richterliche Entscheidungen in Bereichen getroffen werden, die im politischen System praktisch nicht mehr korrigiert werden können.[224]

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      Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle des Völkerrechts

      Das Gewohnheitsrecht ist in Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut explizit als Rechtsquelle des Völkerrechts anerkannt. In den anderen Rechtskreisen spielt es tendenziell keine große Rolle mehr.[225] Voraussetzung für die Bildung völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts ist nach dem IGH-Statut eine allgemeine, als Recht anerkannte Übung. Dies stimmt mit den allgemeinen Voraussetzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht überein.[226] Notwendig sind die länger dauernde Übung (longa consuetudo) sowie die Überzeugung der Beteiligten (opinio iuris).[227] Diese Kriterien sind relativ vage. Die relevanten Fragen, auf welchen Personenkreis es ankommt, wie lange eine Übung dauern muss und welche Rechtsfolgen die Nichtbefolgung der Norm hat, werden zwar gestellt, aber nicht wirklich beantwortet.[228] Um in Bereiche vorzustoßen, die der Volksanschauung entzogen sind, wird zum Teil auch die Berufung auf eine opionio juris doctorum für möglich gehalten.[229] Seit jeher ist auch partikulares Gewohnheitsrecht anerkannt,[230] sodass es regional bzw. lokal begrenzt sein kann. Analog zu seiner Entstehung kann Gewohnheitsrecht durch Desuetudo seine Geltung verlieren.[231]

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      Allgemeine Rechtsgrundsätze im Völker- und Unionsrecht

      Sowohl im Völkerrecht wie im Unionsrecht ist die Einordnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle explizit in verbindlichen Normtexten abgesichert. Für den Bereich des Völkerrechts folgt dies aus Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut. Auch das Unionsrecht nimmt auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze Bezug (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 340 Abs. 2, Abs. 3 AEUV). Vor Inkrafttreten des VwVfG bildeten die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine zentrale Rechtsquelle des allgemeinen Verwaltungsrechts.[232] Der einheitliche Begriff darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hinter den allgemeinen Rechtsgrundsätzen aus rechtstheoretischer Perspektive unterschiedliche Normtypen verbergen. Bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Verwaltungsrechts, die 1977 durch das VwVfG abgelöst wurden, handelte es sich um subsumtionsfähige Regeln, die jedenfalls zum Teil nach dem Konditionalschema Tatbestand und Rechtsfolge strukturiert waren. Speziell auf primär- und auf verfassungsrechtlicher Ebene kommt den allgemeinen Rechtsgrundsätzen hingegen eher Prinzipiencharakter zu. Sie sind auf eine Konkretisierung angelegt und müssen in der Regel mit gegenläufigen Prinzipien abgewogen werden. Beispiele hierfür sind so abstrakte Prinzipien wie der Grundsatz von Treu und Glauben[233] oder das Verbot des Rechtsmissbrauchs.[234]

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      Begründung allgemeiner Rechtsgrundsätze

      Die normative Verbindlichkeit der allgemeinen Rechtsgrundsätze unter Hinweis auf Gewohnheitsrecht zu begründen, sieht sich den allgemeinen Einwänden ausgesetzt, die speziell im Verwaltungsrecht gegen die Figur erhoben werden.[235] Methodisch überzeugender sind zwei alternative Ansätze. Allgemeine Rechtsgrundsätze lassen sich häufig aus übergeordneten Verfassungsprinzipien ableiten, die miteinander konfligieren und dann im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden.[236] Diesem deduktiven Ansatz steht ein induktiver Ansatz gegenüber. Hier wird aus verschiedenen Einzelregelungen auf eine allgemeine Regel geschlossen. Anwendungsbeispiele für diesen Ableitungszusammenhang sind im Völkerrecht die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut) sowie die unionalen Grundrechte, soweit sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben (Art. 6 Abs. 3 EUV). In beiden Fällen wird nicht unmittelbar auf nationales Recht zurückgegriffen. Vielmehr dient dieses als Grundlage, um einen völkerrechtlichen bzw. unionalen Rechtssatz zu bilden. Die „fremden“ Rechtsordnungen sind daher keine echten Rechtsquellen, sondern lediglich Rechtserkenntnisquellen. Nicht überzeugend ist es, allgemeine Rechtsgrundsätze unmittelbar aus dem Prinzip der Gerechtigkeit abzuleiten.[237]

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      Richterrecht

      Eine weitere Rechtsquelle des ungeschriebenen Rechts ist das Richterrecht.[238] Dessen Anerkennung ist insoweit unproblematisch, als eine Entscheidung nicht vollständig durch andere Rechtsquellen vorgegeben ist. In diesem Rahmen setzt das zur Entscheidung berufene Gericht selbst Recht.[239] Deutlich kritischer ist die Frage, ob eine einmal getroffene Entscheidung auch Wirkungen für Folgeentscheidungen hat bzw. haben darf. Die Rechtsprechungspraxis deutet in diese Richtung. In den Entscheidungsbegründungen nimmt die Auseinandersetzung mit Vorentscheidungen eine prominente Rolle ein.[240] Deren Bestätigung ist die Regel, eine Abweichung eine seltene und dann