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Handbuch des Verwaltungsrechts


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nicht die Frage beantwortet, ob dies auch rechtlich geboten ist. Die Argumente in der Debatte sind weitgehend ausgetauscht.[241] Gegen die Bindung spricht, dass gerichtliche Entscheidungen nur inter partes wirken.[242] Wo ein Rückgriff auf Gewohnheitsrecht ausscheidet,[243] wird die normative Verbindlichkeit von Präjudizien unter Hinweis auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes,[244] die Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz[245] oder – was zirkulär anmutet – als Recht im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG begründet.[246] Ähnlich wie Verwaltungsvorschriften kommt dem Richterrecht nur eine präsumtive Verbindlichkeit zu.[247] Es kann im Wege des distinguishing fortentwickelt und im Wege des overruling abgelöst werden.[248] Umstritten ist, inwieweit der Vorrang und der Vorbehalt des Gesetzes der richterlichen Rechtsfortbildung im Bereich der Eingriffsverwaltung[249] Grenzen setzen. Dies ist entscheidend davon abhängig, ob Gesetzesbindung als Bindung an den Normtext (positivistischer Gesetzesbegriff), die ratio legis (teleologischer) oder die hinter den Normtexten stehenden Wertungen betrachtet wird (axiologischer Gesetzesbegriff).[250]

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      Nicht-Recht als Rechtsquelle des Verwaltungsrechts

      Eine wichtige Funktion der Rechtsquellenlehre besteht darin, Recht von außerrechtlichen Sollensgeboten zu unterscheiden.[251] Diese strikte Zweiteilung wird durchbrochen, wenn im Rechtssystem selbst auf außerrechtliche Normen Bezug genommen wird. Dies kann sich aus verschiedenen Gründen anbieten. Hierzu zählen die Einbindung privaten Sachverstandes, die Erhöhung der Akzeptanz und Vollzugsbereitschaft bei den Normadressaten, aber auch die Vermeidung einer unbedingten, strikten Verbindlichkeit zugunsten einer flexibleren situativen Normanwendung.[252]

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      Juridifizierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen

      Verschiedene Normen des geschriebenen und des ungeschriebenen Verwaltungsrechts knüpfen tatbestandlich an Begriffe an, die auf gesellschaftliche Konventionen und Wertvorstellungen Bezug nehmen. Hierzu gehören die polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklauseln, die ein Einschreiten auch bei einer Missachtung der öffentlichen Ordnung gestatten. Eine derartige Inkorporation darf nicht zu dem Missverständnis führen, hiermit würden gesellschaftliche Werte und Normen unmittelbar zu Rechtsquellen des Verwaltungsrechts. Entsprechende Normen werden nach den Maßstäben juridischer Rationalität ausgelegt und sind damit insbesondere im Lichte verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen zu interpretieren.[253]

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      Private Normierungseinrichtungen

      Sowohl auf nationaler, europäischer wie auf internationaler Ebene haben sich verschiedene private Normierungseinrichtungen etabliert.[254] Hierzu gehört auf nationaler Ebene insbesondere das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN).[255] Auf europäischer Ebene ist dies das Europäische Komitee für Normung (CEN)[256] und auf internationaler Ebene die International Organization for Standardization (ISO).[257] Die Fülle der von diesen gesetzten, nichtstaatlichen und damit mangels Rechtssetzungsbefugnis prima facie unverbindlichen Standards[258] ist unüberschaubar.[259] Ihr traditioneller Regelungsgegenstand sind technische Normen, die die Sicherheit und die Qualität von Produkten gewährleisten sollen. Große Bedeutung kommt der privaten Normsetzung auch im Bereich der Cybersecurity zu.[260] Damit entlastet die private Normierung den Staat. Dies gilt nicht nur unter Kostenaspekten. Der Verzicht auf eine eigene staatliche Standardsetzung setzt Ressourcen frei, die sonst in möglicherweise langwierigen Auseinandersetzungen um einen Ausgleich divergierender Interessenlagen gebunden wären. Kehrseite dieser Effizienzvorteile sind legitimatorische Schwächen. Wohl unstrittig ist hingegen der wichtige Beitrag, den die private Standardsetzung zur Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs leistet.[261]

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      Organisation privater Normierungseinrichtungen

      Beim DIN obliegt die Normierung den Normierungsausschüssen,[262] deren Arbeitsweise sich nach der DIN-Richtlinie bestimmt.[263] Die fachliche Arbeit wird durch externe Mitarbeiter geleistet, die von hauptamtlichen Bearbeitern des DIN unterstützt werden. Zu diesen gehören Fachleute aus den interessierten Kreisen, u. a. Anwender, Behörden, aber auch Vertreter von Umweltschutzverbänden, Verbraucher, Wissenschaft und gesellschaftspolitische Interessenverbände. Ungeachtet dieser Öffnung zur Zivilgesellschaft dominieren in den Normierungsausschüssen wirtschaftliche Interessen. Den größten Anteil an der Finanzierung der Normierungsarbeit haben die Einnahmen aus dem Verkauf der urheberrechtlich geschützten Standards.[264]

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      Mittelbare rechtliche Verbindlichkeit privater Regelwerke

      Unmittelbare Rechtsverbindlichkeit erlangen Standards, wenn eine staatliche Norm direkt auf ein privates Regelwerk verweist (z. B. § 37b Abs. 3 BImSchG). Damit wird die private Norm in das staatliche Recht inkorporiert. Hierbei ist zwischen statischen und dynamischen Verweisen zu unterscheiden.[265] Eine weitere Form der Inbezugnahme erfolgt über unbestimmte Rechtsbegriffe. Beispielsweise wird in verschiedenen Normen des Technik- und Anlagenrechts auf die „anerkannten Regeln der Technik“[266] verwiesen (u. a. § 23 EnEV, § 50 Abs. 4 WHG). Um diese zu bestimmen, stellen DIN-Vorschriften eine Rechtserkenntnisquelle dar. Ohne den Rückgriff auf weitere Erkenntnismittel auszuschließen, begründen sie eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sie als Regeln, die unter Beachtung bestimmter verfahrensrechtlicher Vorkehrungen zustande gekommen sind, sicherheitstechnische Festlegungen enthalten, die einer objektiven Kontrolle standhalten.[267] Wo die Standards jedenfalls mittelbar rechtlich relevant werden, stellt das Rechtsstaatsprinzip Anforderungen an deren Zugänglichkeit.[268]

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      Legitimationsdefizit privater Standardsetzung

      Die praktische Relevanz der privaten Standardsetzung steht in einem auffälligen Kontrast zu ihrer eher prekären Legitimation. Die Festlegung technischer Standards ist keinesfalls eine apolitische Frage, sondern setzt häufig eine Risikoeinschätzung und Risikobewertung voraus, bei der konfligierende Interessen zum Ausgleich gebracht werden.[269] Insofern erscheint es zweifelhaft, wie weit eine Legitimation über den Aspekt der Selbstregulierung und einer grundrechtlich verbürgten Normierungsautonomie[270] trägt, da von der Normierung typischerweise auch unbeteiligte Dritte sowie Allgemeininteressen berührt sind.[271] Damit spricht viel dafür, dem österreichischen Beispiel zu folgen, das in einem Normengesetz zentrale Fragen wie die Anerkennung von Normierungsorganisationen, ihre Aufgaben und Pflichten und die Grundsätze der Normungsarbeit gesetzlich geregelt hat.[272]

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      Situation im Völkerrecht

      Auch jenseits der technischen Normung haben sich weitere nichtstaatliche Normen etabliert, die von NGOs oder Privaten gesetzt werden. Die Beispiele für diese sog. soft law[273] und seine Verschränkungen mit dem staatlichen Recht sind sehr vielschichtig und entziehen sich einer generalisierenden Betrachtung.[274] Aus der Perspektive der staatlichen Akteure kann diese Art der Normsetzung aus verschiedenen Gründen attraktiv sein. Diese reichen von der Einbeziehung externen privaten Sachverstandes, über die Akzeptanzsicherung bis zur Auflösung von Blockadehaltungen, die durch das Konsensprinzip im Völkerrecht und politische Widerstände im nationalen Recht bedingt sind. Ein Schwachpunkt dieser Form der Rechtssetzung ist die tendenziell prekäre demokratische Legitimation.[275]

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      Numerus clausus der Rechtsquellen

      Keine Frage einer allgemeinen Rechtsquellenlehre ist, ob innerhalb einer Teilrechtsordnung ein Numerus clausus der Rechtsquellen besteht.[276] Dies muss innerhalb des jeweiligen