III
Wer irgendwelche durch dieses Gesetz aufgehobenen Gesetze anwendet oder anzuwenden versucht, setzt sich strafrechtlicher Verfolgung aus.
Ausgefertigt in Berlin, den 20 September 1945“[2]
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Rechtsfortgeltung
Artikel I des Kontrollratsgesetzes Nr. 1 setzte voraus, dass die dort genannten „Nazi-Gesetze“[3] einer ausdrücklichen Aufhebung bedurften und nicht schon mit der bedingungslosen Kapitulation und der Übernahme der „obersten Regierungsgewalt in Deutschland“ (supreme authority in Germany) nach Protokoll Nr. 1 durch den Obersten Befehlshaber[4] bzw. nach der sog. „Berliner Erklärung“ vom 5.6.1945[5] durch die „Alliierten Vertreter“[6] und schließlich durch den Kontrollrat[7] ihre Geltung verloren hatten. Die ausdrückliche Aufhebung konnte als machtvoller Ausdruck dieser „obersten Regierungsgewalt in Deutschland“ verstanden werden.[8] Sie legte jedoch den Umkehrschluss nahe, dass vor dem 8.5.1945 erlassenes deutsches Recht auch nach Auffassung der Besatzungsmächte grundsätzlich fortgalt, soweit es nicht (1.) ausdrücklich durch die Besatzungsmächte aufgehoben worden war oder (2.) nationalsozialistischem Gedankengut entsprach.[9] Dies galt grundsätzlich auch für die in der Zeit von 1933 bis 1945 erlassenen „Nazi-Gesetze“ (solange ihnen ein Mindestmaß an Förmlichkeit zukam und sie damit als verbindliche Anordnungen genereller Natur zu erkennen und „vollzugstauglich“ waren).[10] Tatsächlich setzte Artikel II des Kontrollratsgesetzes Nr. 1 geradezu voraus, dass (auch) Normtexte aus der NS-Zeit in einer Weise anzuwenden und auszulegen sein könnten, die frei von nationalsozialistischem Gedankengut waren. Dementsprechend konnte z. B. nicht nur die Gewerbeordnung von 1869 (bereinigt um die durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 aufgehobenen Änderungen des Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung vom 6.7.1938) weiter angewendet werden. Ebenso konnte die Deutsche Gemeindeordnung vom 30.1.1935 „zur Not einen Rahmen für die Weiterarbeit der Gemeindeverwaltungen unter den Militärregierungen geben“.[11] Sie diente als „Arbeitsgrundlage“ für die Schaffung der Gemeindeordnungen der neu gegründeten Länder.[12] Auch das Deutsche Beamtengesetz vom 26.1.1937 wurde in „entnazifizierter Form“ teilweise weiter angewendet,[13] bis es (endgültig) jeweils durch das Bundesbeamtengesetz und die Landesbeamtengesetze ersetzt worden ist.
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Personelle Verwaltungskontinuität
Proklamation Nr. 1[14] ermöglichte zudem eine Kontinuität des Verwaltungspersonals.[15] Das BVerfG beschreibt dies in seinem Beamtenurteil: „Wenn auch alle Beamtenverhältnisse mit dem Zusammenbruch erloschen sind, so läßt sich doch an der Tatsache nicht vorbeigehen, daß in einem zunächst beschränkten und sich dann rasch erweiternden Umfang öffentlicher Dienst geleistet wurde und dabei auch frühere Beamte in zahlreichen Fällen an ihren bisherigen Dienststellen Verwendung fanden. Dies war sachlich veranlaßt durch die Notwendigkeit, gewisse öffentliche Aufgaben weiterzuführen, und beruhte formell auf der Proklamation Nr. 1 des Obersten Befehlshabers der Alliierten Streitkräfte, nach deren Ziffer IV […].“[16] Damit war bereits in der Proklamation Nr. 1 angelegt, dass sich das Verwaltungspersonal der frühen Bundesrepublik jedenfalls auch aus Personen zusammensetzen würde, die entsprechende oder ähnliche Aufgaben nicht nur vor 1933, sondern auch während der NS-Zeit wahrgenommen hatten.[17] Dies wiederholte sich in der Justiz.[18]
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Institutionelle Verwaltungskontinuität
Proklamation Nr. 1 und Kontrollratsgesetz Nr. 1 setzten zudem voraus, dass die vor dem 8.5.1945 bestehenden unteren staatlichen (Fach-)Behörden (z. B. die Regierungsbezirke, die Landräte [als untere staatliche Verwaltungsbehörden] oder die Finanzbehörden) sowie die kommunalen Gebietskörperschaften, die Sozialversicherungsträger[19] und andere Verwaltungsträger als Organisation oder als „Organisationsmantel“ fortbestanden und damit Grundlage eines Verwaltungsaufbaus „von unten“ bilden konnten. So wurde bei den 1946 von den Besatzungsmächten initiierten Kommunalwahlen (natürlich) in den bestehenden Gemeinden und Kreisen gewählt. Tatsächlich hatte die „Berliner Erklärung“ vom 5.6.1945[20] auch „nur“ festgestellt, dass es „in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde [gibt], die fähig wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte“ [Herv. des Verfassers] zu übernehmen. Dezentrale Behörden und die Träger mittelbarer Staatsverwaltung wurden dagegen als fortbestehend behandelt.[21] Ein wirklicher organisatorischer Bruch ist in allen Besatzungszonen im Polizeiwesen vollzogen worden.[22]
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Neuaufbau der Justiz
Die von der Proklamation Nr. 1 geschlossenen deutschen Gerichte[23] konnten schrittweise schon ab Ende Mai/Anfang Juni 1945 wieder ihre Arbeit aufnehmen. Art. I des Kontrollratsgesetzes Nr. 4 vom 20.10.1945 zur Umgestaltung des Deutschen Gerichtswesens[24] ordnete insoweit an, dass die „Umgestaltung der deutschen Gerichte […] grundsätzlich in Übereinstimmung mit dem Gerichtsverfassungsgesetz vom 27.1.1877 in der Fassung vom 22.3.1924 (RGBI I S. 299) erfolgen“ und dass sich ihre Zuständigkeiten grundsätzlich auch wieder auf alle Zivil- und Strafsachen erstrecken sollte.[25] Damit wurde der Grundstein für die Fortführung der Justiz in der deutschen Tradition gelegt. Dies betraf auch die hiermit indirekt ausgesprochene Anknüpfung an die (durch Ablegung von zwei Staatsexamen zu erwerbende) „Befähigung zum Richteramt“ als Qualifikationsvoraussetzung für Richter und Staatsanwälte. Dies garantierte indirekt den Fortbestand der überkommenen Juristenausbildung – ebnete aber auch den Weg für die vielfach dokumentierte Übernahme zahlreicher ehemaliger NSDAP-Mitglieder in die Justiz.[26] Für die spätere Verwaltungsrechtsentwicklung ist zudem von Bedeutung,[27] dass mit der Fortgeltung des GVG auch die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit gegenüber dem „Fiskus“ und in Staatshaftungssachen[28] mit fortgeführt wurde. Dies ließ sich teilweise auch mit der vom Reichsgericht während der NS-Zeit angenommenen Fortgeltung des Art. 131 Abs. 1 WRV (einschließlich seines Satzes 3) als einfaches Reichsrecht[29] begründen.
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Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit
Schon das Kontrollratsgesetz Nr. 4 hatte gezeigt, dass die westlichen Besatzungsmächte nicht daran interessiert waren, in ihren Besatzungszonen (Verwaltungs-)Recht nach amerikanischem, britischem oder französischem Vorbild zu schaffen. Ihre politischen Ziele sollten durch eine Rechtssetzung erreicht werden, die sich an deutschen Rechtstraditionen und deutschem Rechtsdenken aus der Zeit vor 1933 orientierte, hieran anknüpfte und gegebenenfalls weiterentwickelte. Dies trifft auch auf die Errichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 vom 10.10.1946[30] zu. Diese erfolgte in den westlichen Besatzungszonen zwar durch Schaffung unterschiedlicher Prozessordnungen (vor allem den Verwaltungsgerichtsgesetzen [VGG] in den Ländern der Amerikanischen Zone[31] und der Verordnung Nr. 165 vom 15.9.1948 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Britischen Zone[32]).[33] Diese Prozessordnungen knüpften jedoch an Diskussionen in der Weimarer Republik zur Ausgestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit an, sodass sich das neue Verwaltungsprozessrecht in die deutsche Tradition des Verwaltungsrechts und des Prozessrechts einfügte.[34] Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Definition des Verwaltungsakts in § 25 Abs. 1 MRVO (Militärratsverordnung) Nr. 165, die insoweit ausschließlich an deutsche Verwaltungsrechtstraditionen anknüpfte und im Recht der Besatzungsmächte keine Entsprechung findet und fand.[35]
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Kontinuität der Gesetzes- und Verwaltungsroutinen
In den westlichen Besatzungszonen erfolgte damit der Neuaufbau der Verwaltung auf rechtlichen, personellen und institutionellen Grundlagen, die eine Rückanknüpfung an die vor 1933 geltenden Rechtsprinzipien aber auch an die „eingeübten“, der täglichen Verwaltungsarbeit zugrunde gelegten Rechtsanwendungs- und Verwaltungsroutinen ermöglichten. Mit der Anordnung bzw. Annahme der grundsätzlichen Fortgeltung des einfachen Rechts aus der Zeit vor dem 8.5.1945 wurde damit letztlich auch angeordnet, dass dieses alte Recht so zu verstehen war, wie es vorher verstanden worden ist, solange das frühere Verständnis nicht (eindeutig) nationalsozialistisch geprägt war. Schon deshalb lag es nahe, auf die zu diesem Recht vor 1945 (insbesondere vor 1933) ergangene Rechtsprechung sowie die hierzu veröffentlichte Kommentar-, Lehr- und Aufsatzliteratur zurückzugreifen.[36]