zerstört. Aber das Wort der Eltern hatte doch noch die Kraft, diese modernen Versuche der Jugend zu unterdrücken.
Bezeichnend für die noch unerschütterte elterliche Autorität war auch eine Episode, die ich hier erzählen möchte. Das ist sicher kein welthistorisches Ereignis. Und doch spiegelt sich ein gut Stück Kulturgeschichte der Juden darin. Es war an einem Sabbath-Nachmittag. Das Sabbathschläfchen, das als Auneg Schabbes zu den obligatorischen Genüssen des Sabbaths im Ghetto gehörte, hatte man bereits hinter sich. Die meisten Juden ergingen sich nun, die Stimmung der abendlichen Dämmerung genießend, auf der großen Chaussee. Die Männer natürlich streng gesondert von den Frauen; und es war also, wie es in der Bibel heißt: Gehst du zur Rechten, so gehe ich zur Linken. – Gott weiß, wie viele Jahrhunderte schon dieser Brauch im Judentum herrschte! Nun traf es sich, daß mein Schwager A. Sack mit seiner Frau seine Mutter besuchen wollte. Da wagte der junge Mann, in dem die Stürme der Zeit mächtig wogten, eine unerhörte, revolutionierende Tat: er wollte diesen Besuch gemeinsam mit seiner Frau machen. Freilich bis zu der Vermessenheit wagte sich selbst dieser Stürmer und Dränger nicht, etwa durch die belebtesten Straßen gehen zu wollen. Also richtig, sie verließen zusammen das Haus und mußten an den Fenstern unseres Eßzimmers vorbeigehen, wo zufällig mein Vater seinen Nachmittagstee trank. Er sah die beiden Sünder, und der Zorn packte ihn. Er klopfte hastig an die Fensterscheiben und rief in befehlendem Tone meiner Schwester zu: »Du gehst sofort zurück. Dein Mann kann allein gehen. Für jüdische Frauen, und gar für meine Töchter, paßt es sich nicht, dicht beieinander und noch am hellen Tage zu spazieren.« – Mein Schwager war natürlich sehr aufgeregt. Aber er wagte es doch nicht, offenen Widerstand zu leisten. Er ging allein seines Weges. Und meine Schwester, die wieder in das Haus zurückgekehrt war, folgte ihrem Gatten erst, als sie annehmen konnte, daß er bereits an seinem Ziele angelangt war.
Aber diese autoritative Stellung meines Vaters, der selbst die Gewissensfragen niederzudrücken wagen konnte, wurde allmählich erschüttert. Nach schweren inneren Kämpfen mußte er schließlich erkennen, daß der Zaun um die jüdische Religion durchbrochen war; und er war trostlos, sehen zu müssen, daß sein teuerstes Kleinod, die Religion, die er in allen Stürmen des Lebens gehütet und verteidigt hatte, jetzt verhöhnt wurde, daß der Sabbath und die Feiertage ihrer Weihe beraubt und zum Werktage wurden. Mahnungen und laute Proteste verhallten wirkungslos gegen den Zeitgeist. Was Wunder, daß schließlich beiden Teilen, den Alten und den Jungen, das gemeinsame Leben auf die Dauer unerträglich wurde. Sowohl meinen Bruder, wie den Schwager Sack hielt es nicht mehr im Hause. Es trieb sie hinaus in die große, weite Welt. Sie hatten beide noch keine größere Stadt als Brest gesehen. Aber sie hofften in der Fremde vorwärts zu kommen. Sie beluden sich nicht mit allzu schwerem Gepäck; aber sie nahmen viel ehrliches Streben mit, einen leichten Kindersinn, starkes Selbstvertrauen, edle Vorsätze und einen unerschütterlichen Glauben an die Menschheit und an die Zukunft. Mit diesen gediegenen Reiseutensilien ausgestattet, rissen sie sich nicht ohne Schmerz und Kampf von Weib und Kind los und folgten ihrem dunklen Drange, der sie mächtig fortzog. Sack verlor auch im späteren Leben nicht die Kraft der modernen Überzeugungen und die Kenntnisse der alten jüdischen Kultur. Er blieb durch sein Leben ein Kämpfer für die Aufklärung. Die neue Zeit mit allen ihren kulturellen Inhalten zu ergreifen, galt sein unermüdliches Bestreben. Er stand hoch über dem geistigen Niveau seiner Umgebung. Aber seine gemütvolle Art und sein sprühender Geist schlossen jede Überhebung aus. Ein inniger Ton herrschte in seinem Hause, und daran konnten seine äußeren Erfolge nichts ändern. Sein edler Charakter, seine Menschenliebe, seine Opferfreude zeichnen ihn vor vielen aus. Der Titel »Exzellenz«, den Alexander III. dem verdienten Direktor der Petersburger Diskontobank verlieh, fügte seinem Wesen keine neue Note zu. Der Geist, der in seinem Hause herrschte, verschwebte nicht, als der arbeitsfrohe Mann starb. Er ließ seiner Frau – meiner Schwester Kathy – das schöne Vermächtnis, von ihrem Gute immer den Armen, den Ringenden, den Verzagenden zu geben. Von ihrer stillen Klause ging viel Edelmut aus. Nahe und Ferne – Künstler und Gelehrte wissen davon zu sagen. Ich aber darf davon schweigen....
Die Liebe war der ganzen Familie ein Teil, die Liebe, so auch der Bildung entraten kann. A. S.' ältere Schwester war zwar kein Kind der Moderne. Das alte jüdische Haus hatte sie erzogen zur Stille der Seele. Wie sie voller Gehorsam und Selbstverleugnung ihrer vielfordernden Mutter gegenüberstand, so innig zärtlich war sie zu ihren Stiefkindern. Sagt nicht die Volkslegende, daß der Platz der Stiefmutter im Paradiese leer steht? Ich glaube, er ist jetzt besetzt…
– Wie schnell die Zeiten wandern: man konnte diesen Zug mit überraschten Augen an den Brüdern des S.schen Hauses verfolgen.
Mußte der älteste noch um die Anerkennung der Aufklärung ringen, bei seinen jüngeren Brüdern galt die Beschäftigung mit der Bibel und dem Talmud nur noch als Zugabe zum neuen Programm. Sie wandten ihre ganze Mühe und ihren ganzen Fleiß meistenteils auf das Studium der fremden Sprachen2.
Ähnlich und doch anders war das Leben meines Bruders Ephraim geartet. Ich mag dieses Kapitel nicht schließen, ohne in wehmütiger Ergriffenheit noch zu sprechen von seinen Schicksalen, seinen Wanderungen und seinen – Wandlungen.
Mein Bruder Ephraim glich mehr meiner Mutter als unserm Vater. Der Vater war herbe und streng. Die Mutter war weich und schwärmerisch. Ihr hing er mit ganzer Seele an. Er war der einzige Sohn im Hause. Der Träger des Namens, der »Kaddisch«. Was Wunder, daß Vater und Mutter und wir Schwestern ihn alle verzogen! Der ernste Sinn meines Vaters führte ihn früh in die heiligen Hallen der Bibel ein. Er war noch nicht zehn Jahre, da kannte er schon einen großen Teil der fünf Bücher auswendig. In seinem elften Jahre war er im Gedankenkreise der Propheten heimisch. In ihrer Wucht, in ihrer Schwermut, in der Innigkeit und Größe ihrer religiösen Welt fand er seine geistige Nahrung. Und es war sein höchstes Entzücken, wenn er in der Synagoge den Prophetenabschnitt vorlesen konnte. In seiner wunderbaren Stimme lag die ganze Romantik eines schwärmerisch-seligen Knaben. Andächtig lauschten die Hörer. Aber mein Vater war voller Stolz, und die Gewißheit eines Erben seiner nationaljüdischen Überzeugung war in ihm. Als Ephraim zwölf Jahre wurde, erschloß sich ihm die Welt des Talmud. Nebenher aber lernte er die russische und deutsche Sprache und sang mit köstlicher Freudigkeit die Lieder der fremden Völker. Dabei war er durchaus kein Stubenhocker. Der Ernst seines Studiums hatte niemals die frohe Kindlichkeit verdrängt. Unter seinen jugendlichen Kameraden war er der lustigsten einer. Und voll purzelnder Einfälle war sein Spiel. Seine Laune konnte den Trübsten erheitern. Wie oft mußten wir Schwestern über ihn, mit ihm lachen! Schmollend böse und doch belustigt nannten wir ihn den »Köppeldreher«. Wirklich, er konnte jedem den Kopf verdrehen.
So wuchs er heran, zwar freier werdend in seiner Auffassung des Judentums. Denn dem Geiste der Lilienthalschen Epoche konnte sich eben kein junges Gemüt entziehen. Aber die Kraft seiner tiefen Religiosität war unerschütterlich. Da trat in sein Leben ein Ereignis, das sein Schicksal werden sollte. Die Eltern drängten darauf, daß er sich verheirate. Ihre Wahl traf auf unsere Cousine. Er liebte sie nicht, und sie ihn auch nicht. Aber der Wille der Eltern bestand. Der Großvater wollte nicht, daß das Vermögen zerstreut würde. So mußte Ephraim denn, ob er wollte oder nicht wollte, das Mädchen heiraten. Nach der Geburt seines ersten Kindes ging Ephraim nach Nordamerika. Er hatte die Zustimmung seiner Frau. Aber es war doch das unglückliche Leben, das ihn aus der Heimat drängte. Und an Zwiespalt mit den Eltern fehlte es auch nicht: die Aufklärung höhlte zwischen dem Vater und dem Sohne eine tiefe Kluft.
Auszug nach Amerika! Es war eine Wanderung aus dem Lande der Knechtschaft. Dort in der Freiheit wollte er ein neues Leben beginnen, schaffen und studieren, um seine ganze Kraft und seinen seelischen Reichtum an neuen Zielen zu erproben. Die Überfahrt war schrecklich. Neun Wochen in einem Segelschiff! Fast vier Wochen in eisiger Kälte, den Stürmen des Kanals ausgesetzt. Einsam und verlassen war er nun im fremden Lande: und seine Geldmittel waren geschwunden. Von seiner Hände Arbeit konnte er nicht leben. Er hatte ja nichts gelernt, um sich durchzusetzen. Er versuchte es mit dem Handel. Er versuchte es mit Fabrikarbeit. Aber das war kein Leben für den geistig angeregten Mann. Da leuchtete seiner Nacht ein Hoffnungsstern: Lilienthal. Derselbe Lilienthal, der in der Brester Jugend die Kultursehnsucht erregt hatte, lebte jetzt in New York. Ephraim ging zu ihm. Er erzählte ihm die Geschichte seines Leides. Aber es war ein kalter Empfang, der das weiche Gemüt des jungen Lebensstürmers vollends verwirrte. Was ein hartes