Pauline Wengeroff

Memoiren einer Grossmutter, Band II


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Landbau war ja den jungen Kämpfern als das höchste Ideal gezeigt worden. Er ging auf eine Farm. Zu einem Christen, der ihn freundlich aufnahm. Bald konnte er sich eine eigene kleine Farm erwerben, die ungefähr zwölf Meilen von New York entfernt war. Hier in dem neuen Kreise fügte er sich ganz in die neuen Lebensgewohnheiten ein. Er ging in die Kirche. Er lauschte der Predigt. Besonders war es die Rede eines Geistlichen, dessen Worte von Sünde, Strafe, Reue und Vergebung ihn mächtig packten. Von der jüdischen Gesellschaft hielt er sich ganz fern. Die Predigt war eigentlich seine einzige geistige Erholung. Da fand er einen Freund. Einen Jugendgefährten aus seiner Heimat Brest, der nach vielen Wanderungen in Amerika als Blasinstrumentenmacher gelandet war. Dieser Freund hatte das Judentum verlassen, und er wußte Ephraim zu bestimmen, die Taufe zu nehmen. Das war ein folgenschwerer Schritt. Man wurde auf ihn aufmerksam. Seine reichen Kenntnisse der biblischen und talmudischen Literatur sollten nutzbar gemacht werden. Er gab seine Farm auf, wurde Theologe und wanderte bald als Prediger von Stadt zu Stadt. Mit großem Erfolge konnte er sein Studium beenden. Noch während seiner Seminarstudien rief er seine Frau und sein Kind aus Rußland zu sich. Sie kamen. Aber es war bei aller äußeren Friedlichkeit doch keine Gemeinschaft. Es gibt eben im Leben sensitiver Menschen so manches Verbogene, das nie gerade gerichtet werden kann, und so manche Lücke, die sich nie füllt. Seine Freunde drängten meinen Bruder, daß er sein Leben der Judenmission widme. Er fand sich dazu bereit. Aber nur unter der Bedingung, daß er zuvor Medizin studieren dürfte. Seinem Willen wurde entsprochen; und nach weiteren drei Jahren konnte er sein ärztliches Studium abschließen. Er wurde nach der Balkanhalbinsel gerufen, wo er in mehreren Städten einige Jahre verlebte. Seine Missionsarbeit hatte keinen Erfolg. Und als ihm die Mittel für eine Missionsschule versagt wurden, trennte er sich bald von dieser Tätigkeit und übte fortan nur die medizinische Praxis aus. Unter Juden, Türken, Bulgaren und Griechen fand er eine große Klientel. Im Beginne der sechziger Jahre erhielt mein Bruder die Nachricht, daß nach dem Tode des Großvaters ihm und seiner Frau mehrere tausend Rubel zugefallen seien. Sein Familienleben war auch in der Türkei nicht glücklicher geworden als in Amerika; und so kam ihm die Erbschaft gerade recht, seine unbezwingbare Sehnsucht zu erfüllen. Er wollte seine Geschwister wiedersehen. Und seine Mutter. Die Geschwister konnten vielleicht verzeihen. Die Mutter kannte keine Verzeihung. In einer Stadt Deutschlands traf man sich. Das Wiedersehen war qualvoll, herzzerreißend. Die alte Mutter fiel dem Sohne zu Füßen und schwur, daß sie nicht eher aufstehen würde, als bis der Sohn wieder zum Glauben seiner Väter zurückkehrte und nie wieder während ihres Lebens nach Amerika ginge. Mein Bruder gab das Versprechen. Er blieb in Deutschland und wurde ein Jude, der getreu die Satzungen seiner Religion beobachtete. Die Sohnesliebe siegte. Er blieb eine kleine Zeit mit Mutter und Vater in Deutschland. Sie fühlten sich glücklich. Sie hatten ihr Lebensziel erreicht. Ihr Sohn gehörte wieder zu ihnen. Es war, als wären sie in ihrem hohen Alter noch mit einem Kinde beglückt worden. Ehe aber die Eltern heimkehrten, hatten sie noch eine schwere Aufgabe. Die innerlich längst zerbrochene Ehe meines Bruders wurde nach jüdischem Rechte geschieden. Die Frau behielt das eine Kind; das andere war inzwischen gestorben. Mein Bruder ging nach Wien, um sich weiteren medizinischen Studien zu widmen. Indessen kam es, daß unsere alte Mutter das Zeitliche segnete. Ephraim war nun frei. Er konnte wieder an die Rückkehr nach Amerika denken. Inzwischen war der Krieg Österreichs gegen Italien ausgebrochen. Mein Bruder machte die Seeschlacht bei Lissa unter Admiral Tegetoff als Korvettenarzt mit. In einem englischen Epos besang er dann diese Schlacht. Tegetoff nahm die Widmung dankend an, und der Kaiser belohnte den dichtenden Arzt mit einer Ehrengabe von 600 Florin. Nun kehrte mein Bruder nach Amerika zurück, wo er an einer Reihe Universitäten als Professor der Sprachen wirkte. Bald nahm er indes wieder seine Praxis auf, ging nach Chikago, wo er noch heute Mitredakteur des American Journal of Clinical medicine ist. Er hatte zum zweiten Male in Cincinnati geheiratet. Sieben Kinder sind aus dieser Ehe entsprossen. Trotz seiner 81 Jahre ist er rüstig tätig, und seine Mitbürger halten ihn in Ehren.

      Meine Verlobung

      Station Ratomke bei Minsk, am 20. Juli 1898, unter der Eiche auf der kleinen Bank im Walde niedergeschrieben. Erinnerungen an meine Verlobung im Jahre 1849.

      Der Zufall fügte es, daß ich gerade heute auf die Schatulle stieß, in der meines Mannes und meine Briefe aus unserer Verlobungszeit aufbewahrt liegen. Ich öffnete sie, blätterte nachdenklich in den vergilbten Papieren, und ehe ich es merkte, umfing mich die ganze glückliche Vergangenheit. Ich vergaß meine Umgebung und las – Die Eiskruste, welche das Leben um mein Herz gebildet hat, fühlte ich allmählich schmelzen, die Jugend stieg in mir auf und mit ihr all die Gefühle, die ich einst durchlebte, so frisch, so lebhaft, als wenn es gestern gewesen wäre. Vergessen waren die Gegenwart, alle Sorgen, alle Leiden, die ich in den siebenundvierzig Jahren durchgemacht habe – ich war wieder die sechzehnjährige Pessele in ihrem trauten Heim, von Eltern und Geschwistern umgeben.

      Und ein Bild nach dem anderen stieg plastisch in meiner Erinnerung empor: Die letzten Zeiten eines sorglosen Daseins; die Schule, das fleißige, eifrige Lernen; dann das neuerwachende Gefühl, das so plötzlich und unerwartet in mein Leben trat – die junge Liebe – Träume – Hoffnung – Sehnsucht – Verlobung – Hochzeit —

      Sie lassen mich nicht los, all die lieben Erinnerungen, und der Wunsch wird in mir rege, alles das, was ich einst erlebte, niederzuschreiben für meine Kinder zum Andenken an ihre Mutter.

      Nach der Vermählung meiner älteren Schwester E. F. hatte ich noch mehr als früher in unserer Wirtschaft zu besorgen. Außer der Wirtschaft aber lernte ich sehr viel, ich wurde immer fleißiger, als ob mir eine innere Stimme sagte, daß ich nicht mehr lange im väterlichen Hause werde schaffen können. Ich besuchte mit noch einigen Mädchen eine Privatschule, wo wir in der russischen und deutschen Sprache unterrichtet wurden. Unser Lehrer war ein älterer Herr, namens David Podrewski. Sein schiefer Mund erschwerte ihm häufig die Aussprache mancher harten russischen Worte, weshalb wir ihn nicht immer verstehen konnten. Von den beiden Sprachen war ihm in der Tat nur die deutsche geläufig; seine Kenntnisse in der russischen Sprache waren sehr mangelhaft. Zwei Rubel monatlich für dreistündigen täglichen Unterricht – das war sein Honorar.

      Ich hatte eine große Freude an Büchern. Da uns aber in jenen Zeiten keine Kinderbibliothek zur Verfügung stand, so las ich alles, was mir unter die Finger kam: Märchen, allerhand Erzählungen in Jüdisch-deutsch, Gdules Josef, »Zenture, Wenture« (Abenteuergeschichten), Bobe-meisses, (Bowe-Korelewitsch). Am meisten aber fesselten mein Gemüt die reichen phantastischen, orientalischen Märchen von »Tausend und eine Nacht«.

      Diese Lektüre befriedigte mich nur bis zu meinem elften Jahre; später wurde Robinson Crusoe mein Lieblingsbuch und noch später Zschokke und Schiller, dessen erster Band mit seinem poetischen Inhalt von uns Mädchen gesungen und auswendig gelernt wurde. Dieses Interesse für Schiller teilten wir mit der gebildeten jüdischen Jugend jener Tage, die sich an diesem großen Dichter begeisterte und seine Werke fleißig studierte. In die erdrückende, dumpfe Atmosphäre des Ghetto drang wie ein Frühlingshauch Schillers Poesie, und die Juden bewunderten all die Pracht und Schönheit, die vor ihnen so plötzlich auftauchte. Bei den Juden spielte Schiller eine wichtige Rolle, sowohl in ihrem Leben, wie in ihrer Literatur. Als die jüdische Jugend die Werke des Auslandes zu lesen anfing, griff sie zuerst zu Schiller; an ihm begeisterte sie sich und bildete ihre Kenntnisse der deutschen Sprache aus. Schiller lernten die Männer auswendig, gleich uns jungen Mädchen. Und bald gehörte die Kenntnis der Schillerschen Werke mit zum Studienprogramm eines gebildeten Juden; er lernte den Talmud und Schiller und zwar den letzteren in der gleichen Methode wie den Talmud. Es wurde jeder wichtige Satz einzeln durchgenommen und laut über ihn nachgedacht; Fragen und mögliche Antworten folgten einander, es wurde diskutiert, solange bis man die befriedigende Lösung fand und den angeblich tiefen Sinn, der hinter den Worten stecken sollte. In jener Zeit erschienen auch zahlreiche Übersetzungen ins Hebräische, verfaßt von den besten jüdischen Dichtern, die sich alle an Schiller versuchten. Die Ursache dieser Popularität ist im Wesen der Schillerschen Poesie zu suchen, ihrem intellektuellen Charakter, in dem Ernst, dem Pathos, in seinem Idealismus, der alles Geschehene unter dem Gesichtswinkel des Sittlichen betrachtet.

      In der Schule war's, wo ich zum erstenmal ein russisches Buch, eine Sammlung Gedichte von Gribojedow und Schukowsky, in die Hand bekam. Manches Gedicht dieser Sammlung rührte mich bis zu Tränen, und eine Erzählung in Prosa, die Lebensschilderungen