Jule, weil es den Leuten so schlecht geht?«
»Wenn sie hungern müssen!«
»Nein, Jule, jetzt sollen die Menschen nicht mehr hungern, ich sage es dem Vater. Er wird schon Rat wissen. Morgen bringe ich dir Geld, das schickst du einem, daß er sich mal ordentlich sattessen kann.«
»Soviel kann keiner geben, da müßten alle Leute helfen.«
»Der Vati wird schon Rat wissen, lieber Jule. Und nun sei nicht länger traurig. – Weißt du, ich laufe gleich heim und sage es dem Vati. – Jule, ich habe auch was in der Sparbüchse, das bringe ich dir.«
»Sag lieber nichts«, meinte Jule verlegen. »Sie lachen mich aus. Ich weiß schon, daß ich nicht helfen kann. Aber keiner soll es wissen. Man soll über solches Zeug nicht reden. – Sag es nicht dem Meister, auch nicht der Sabine. Das ist meine Sache!«
Pommerle strich dem Freunde zärtlich über die Wangen. »Jule, ich hab' dich doch immer lieb, und heute hab' ich dich noch viel lieber, ich weiß selbst nicht warum. – Ob die Leute in Neuendorf auch schon gehungert haben? Ach nein, die haben immer Flundern und Heringe, die können sich immer sattessen. Ach, Jule, Flundern und Pellkartoffeln! Jule, hast du schon mal so was Gutes gegessen?«
»Du darfst auch dem Professor nichts sagen.«
»Daß die Leute hungern, sage ich dem Vati. Und nun sei nicht länger traurig, wir lassen keinen verhungern.«
Pommerle hielt es für richtig, noch an diesem Abend mit den Eltern über das Gehörte zu sprechen. Es hatte sich Jules Kummer zu eigen gemacht und fühlte sich selbst bedrückt in dem Gedanken, daß es so viele Menschen gäbe, die Not leiden.
Frau Bender merkte sogleich, daß die Seele ihres kleinen Töchterchens in Aufruhr gekommen war, und nach wenigen Fragen wußte sie, was das Kind quälte.
»Der Jule meint, wenn wir alle helfen würden, wenn jeder dem anderen von seinem Essen was gäbe, brauchten die Leute nicht zu verhungern.«
»Ja, mein Mädchen, der Jule hat recht, doch die Menschen achten nicht immer auf das Elend, das in ihrer Nähe zu finden ist.«
»Mutti, der Jule meinte, die reichen Leute rauchen feine Zigaretten und reisen nach Schweden. Der Jule gibt sein ganzes verdientes Geld für die armen Leute.«
Ein feines Rot zog über das Gesicht der Professorengattin. Vor wenigen Tagen war durch das ganze Land der Aufruf gegangen, gemeinsam der großen Not zu steuern. Jeder einzelne sollte Opfer bringen, jeder sollte versuchen zu helfen, denn es sei nicht mehr mit anzusehen, wie furchtbar ein Teil der Bevölkerung leide. Auch in Frau Bender war der Gedanke aufgestiegen, daß sie verpflichtet sei, sich mehr um den notleidenden Mitmenschen zu kümmern. Heute kam ein neunjähriges Mädchen, dessen Herz bereits von dem Jammer der Notleidenden erfüllt war, und mahnte an eine heilige Pflicht.
»Mutti, können wir nicht allen den Leuten ein bißchen helfen?«
»Gewiß, mein Kind.«
»Mutti, denke nur, in der Zeitung steht geschrieben, daß viele hundert Menschen schon verhungert sind, und eine Mutti hat sogar ihre Kinder totgemacht, weil sie nichts zu essen hatte. – Mutti, du wolltest mir noch einen Mantel kaufen, ich möchte ihn nicht haben. Schenke dem Jule das Geld, ich fahre lieber in dem alten nach – – Schweden.«
Es wurde Frau Bender ordentlich heiß ums Herz. Auch sie hatte schon öfters diese erschütternden Statistiken gelesen und hatte geholfen; trotzdem hatte sie nichts entbehrt. Und dieses Kind war sogleich bereit, auf den neuen Mantel, den es gestern noch so gerne haben wollte, zu verzichten.
Pommerle schmiegte sich fester an die Mutter. »Ich möchte ja so gerne nach Schweden fahren, aber der Jule meinte – –. Mutti, würden viele Leute was zu essen bekommen, wenn wir nicht nach Schweden fahren?«
»Mutti wird gleich morgen manches heraussuchen und auch Geld geben für eine arme Familie, die in unserer Nähe wohnt. – Doch nun geh, mein Kind, Mutti hat noch zu tun.«
Sie schickte heute das Kind nicht hinaus, weil die Arbeit drängte, sondern weil sie von den Worten der Kleinen tief ergriffen war, weil sie selbst ein peinigendes Gefühl der Unruhe in sich aufsteigen fühlte. Man hatte die Wohlhabenden aufgerufen, zu opfern, zu geben, doch erst das kleine Mädchen hatte sie auf die Notwendigkeit dieses Opferns aufmerksam gemacht.
Seit jener Unterredung mit Jule bewegten sich Pommerles Gedanken in anderen Bahnen. In der Schule sprach es mit seinen Kameradinnen von der Not der Mitmenschen. Die Lehrerin wurde gefragt und gebeten, sie möge den Kindern davon erzählen. Pommerle wollte wissen, ob ihr bekannt sei, daß Jules Großvater gehungert habe und daß der Onkel, der sich als Weber sein Brot verdiente, kaum etwas zum Essen hatte. Aufmerksam lauschten die Kleinen den ernsten Berichten, die Fräulein Meersmann gab. Die große Arbeitslosigkeit, die bisher noch zugenommen hatte, brachte viele Menschen an den Rand der Verzweiflung. Manches Kinderherz schlug angstvoll in dem Gedanken, daß eines Tages auch der Vater seine Stelle verlieren würde. Dann kam auch zu ihnen der Hunger und schließlich das Elend.
Immer wieder war es Pommerle, das mit zäher Energie betonte: »Da müssen eben alle Menschen helfen.«
Von nun an verfolgte das kleine Mädchen die Zeitungsnachrichten voller Aufmerksamkeit. Und jedesmal, wenn ihm ein neues trauriges Vorkommnis bekannt wurde, legte es sich wie eine drückende Last auf die Kinderseele. Immer wieder nahm es seinen Weg zu Jule, immer wieder sprachen die beiden diese traurigen Fälle durch, ohne zu wissen, wie zu helfen wäre, wie man das Schreckliche verhindern könne. Pommerles strahlendes Gesichtchen bekam einen nachdenklichen Ausdruck; mitunter lag es wie ein Schleier über den blauen Kinderaugen.
In Jule wollte der Frohsinn nicht mehr erwachen. Eines Sonntags, als er von Benders wieder zum Abendessen eingeladen war, legte der Professor den Arm um die Schulter des hochaufgeschossenen Knaben.
»Ist dir das Herz noch immer schwer, Jule?«
Er wollte abwehren, doch das Zucken seiner Mundwinkel verriet dem Professor, wie es in ihm arbeitete. Er rief auch sein Pommerle herbei, ließ die beiden Kinder niedersitzen und begann zu erzählen von dem Neuen, Großen, was ein Volk plane.
»Wenn du sagst, lieber Jule, daß einer dem anderen helfen müsse, hast du ganz recht. Aber nicht jeder tut es, nicht jeder denkt an den Nächsten. Und darum muß dem deutschen Manne, der deutschen Frau und dem deutschen Kinde klargemacht werden, daß in dieser traurigen Zeit Gemeinnutz vor Eigennutz geht. Du brauchst nicht mehr so verzweifelt dreinzublicken. Ein ganzes Volk ist bereit, seinen notleidenden Brüdern zu helfen. Von allen Seilen sucht man nach Mitteln und Wegen, um Arbeit zu schaffen, denn Arbeit ist das einzige, was uns wieder auf die Beine helfen kann, was uns vorwärts bringt.«
»Es sind viele Hunderte, die hungern müssen.«
»Tausende sind es, mein lieber Junge, und Hunderttausende von Menschen, die keine Arbeit haben. Ein ganzes Heer hoffnungsloser Menschen, denen man neuen Mut und neue Hoffnungen schenken will. Und dabei soll jeder einzelne mithelfen. Durch unser ganzes Volk geht der Ruf: beteilige dich, opfere, opfere so viel du kannst. Ist es dir unmöglich, viel zu geben, so spende weniges, aber gib, gib, denn du brauchst ja noch nicht zu hungern.«
»Will man den Hungernden wirklich helfen?« fragte Jule gespannt.
»Ja mein Junge, es soll versucht werden. Mit Kraft und Energie beginnt man mit dem großen Werk, das zum Winter noch weiter ausgedehnt wird. Unser Volk soll doch wieder gesund und froh werden, und das kann es nur durch Arbeit. Hunderte von Köpfen grübeln darüber nach, wie es anzufassen ist. Hab also Vertrauen, mein Junge, der Weg, den wir gemeinschaftlich gehen wollen, führt uns heraus aus der Not, in der wir augenblicklich stecken. Einer allein kann hier gar nichts tun, alle müssen mithelfen, alle müssen das Wort verstehen lernen, das ich dir vorhin schon sagte: Gemeinnutz geht vor Eigennutz.«
»Ist's möglich den Leuten zu helfen, daß keiner mehr zu verhungern braucht?«
»Mein lieber Jule, wenn ein Sechzig-Millionen-Volk denselben Wunsch, denselben Willen hat, muß es gelingen. Du, mein guter Junge, hast das deutsche Elend bereits begriffen, und mein