noch schöne Tage brachte, kündete Professor Bender seinem Mündel und seiner Pflegetochter an einem Freitagabend an, daß man morgen nachmittag nochmals in die Berge wolle. Meister Reichardt hatte sich bereit erklärt, Jule schon am Sonnabend gegen Mittag zu beurlauben; man wollte erst am Sonntagabend wieder zurückkehren, konnte also eine größere Wanderung unternehmen.
Jules Gesicht strahlte auf, als er von diesem Plan hörte.
»Na, Jule, freut es dich?« fragte Professor Bender.
Statt einer Antwort preßte der Knabe heftig die Hand seines Vormundes. Er hatte es keinem verraten, daß er große Sehnsucht im Herzen trug, wieder einmal in die Berge zu gehen, eine Wanderung zu machen.
»Da du in den letzten Wochen so brav gearbeitet hast, mein Junge, gibt es eine Belohnung. Dann schmeckt die Arbeit wieder doppelt gut.«
Auch Pommerle machte Luftsprünge vor Freude.
»Gehen wir hoch 'rauf, bis auf die Schneekoppe?«
»Nein, mein kleines Mädelchen, das geht jetzt nicht. Das können wir nur im Sommer machen. Trotzdem wirst du viel Schönes zu sehen bekommen.«
»Aber auf einen hohen Berg gehen wir doch, Onkel?«
»Ein gutes Stück steigen wir aufwärts, so weit wir kommen.«
»Es wäre schön, wenn wir auf einen ganz hohen Berg gingen.«
»Warum denn, Pommerle?«
»Ich denke mir, Onkel, daß der Jule sich dann besser mit seiner Mutter unterhalten kann, die oben im Himmel ist. Wenn er ganz laut zu den Wolken hinaufschreit, daß er so fleißig ist, wird sie es schon hören.«
»Das braucht Jules Mutter nicht erst zu hören, das sieht sie.«
»Wenn ich an der See bin, Onkel, dann höre ich durch das Wasser den Vater sprechen. Dann rauschen die Wellen, und ich höre alles, was er mir sagt. Vielleicht hört der Jule seine Mutter auch auf dem hohen Berge.«
»Wenn man seinen Vater und seine Mutter im Herzen hat, mein geliebtes Kind, hört man ihre Stimmen im Waldesrauschen, an der See, im Winde und überall. Und der Jule hat sein totes Mütterchen fest und tief im Herzen.«
»Und ich meinen Vater.«
»Ja, Pommerle, und so soll es immer bleiben. Du kennst ja das Gebot, das uns sagt, du sollst Vater und Mutter ehren, daß es uns wohlergehe. Auch wenn Vater und Mutter tot sind, muß man sie ehren und lieben, wie es der Jule jetzt zeigt, indem er so fleißig und ohne zu murren arbeitet.«
Pommerle nickte dazu.
Pommerle wandert durch Rübezahls Reich
Freudestrahlend, voll froher Erwartungen hatte man in Hirschberg am Sonnabend mittag die Bahn bestiegen, um zunächst nach Warmbrunn zu fahren, weil Professor Bender dort einen kurzen Besuch zu machen hatte.
Pommerle und Jule wanderten mit der Tante durch den Ort. Bei dieser Gelegenheit begegneten ihnen mehrfach Damen und Herren, die in Rollstühlen saßen und von ihren Angehörigen gefahren wurden. Pommerle blickte den Kranken lange nach. Frau Bender mußte dem Kinde die Erklärung geben, daß man hier in Warmbrunn viele Leidende sehen könne, die das ganze Jahr über die heilkräftigen Bäder aussuchten, um von ihren Leiden befreit zu werden.
Man sah sich auch die großen Badeanstalten an, die das Kind voller Ehrfurcht betrachtete. Immer wieder hatte die kleine Wißbegierige allerlei Fragen zu stellen, Pommerle wollte wissen, woher es käme, daß man durch Bäder gesund werde. Es war für Frau Bender mitunter nicht ganz leicht, den Wissensdurst des kleinen Mädels zu stillen.
Es dauerte nicht lange, so gesellte sich der Professor wieder zu den Seinen. Mit der Talbahn ging es weiter nach Hermsdorf, von dort begann die Fußwanderung, denn man wollte über Agnetendorf nach Schreiberhau. Für heute war allerdings nur Agnetendorf das Ziel, dort wollte man übernachten.
Rüstig schritt man aus. Jule und Pommerle gingen strammen Schrittes vor Professor Bender und seiner Gattin her. Das Kind war nicht so gesprächig wie bisher. Es sah noch immer die Rollstühle mit den Kranken vor sich. Plötzlich fing es laut an zu singen. Es waren immer wieder zwei Zeilen, zu denen sich Pommerle die eigene Melodie gemacht hatte.
»Ich bin gesund und wohlgemut,
Und das ist wohl das größte Gut!«
Nachdem das Kind die beiden Zeilen etwa zwanzigmal gesungen hatte, sagte Jule:
»Warum singst du denn immerfort dasselbe?«
»Weil ich so froh und wohlgemut bin, daß ich nicht im Rollstuhl zu sitzen brauche, und daß ich bis nach Agnetendorf und noch viel weiter laufen kann.«
Selbstverständlich kam gar bald die Rede der beiden Kinder auf den Harfen-Karl.
»Dich hat der Himmel auch zur Arbeit und nicht zum Müßiggang erschaffen«, meinte das Kind ernsthaft. »Wer ein Meister werden will, der fällt nicht vom Himmel.«
»Man kann auch wohlgemut sein«, meinte Jule nachdenklich, »wenn man nicht gesund ist. Meinst du nicht auch, Pommerle?«
»Nein«, klang es energisch zurück. »Dann hat man das größte Gut nicht. Wenn ich immerzu in einem Rollstuhl sitzen müßte, wäre ich nicht wohlgemut.«
»Aber unsere Sabine ist doch wohlgemut.«
»Wer ist die Sabine?«
»Die Tochter von meinem Meister. Sie ist noch nicht lange aus Breslau zurück. Sie ist viel in der Werkstatt und sieht mir beim Arbeiten zu. Eigentlich sieht sie nicht, denn sie hat keine Augen, sie ist blind.«
Pommerle blieb ruckartig stehen. »Keine Augen hat sie?«
»Augen hat sie schon, aber die sind blind.«
»Und nun kann sie gar nichts sehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jule nachdenklich. »Sie sagt, sie kann nicht sehen, und die Meisterin sagt es auch. Aber wenn sie in der Werkstatt sitzt und zu mir herüberblickt, kommt es mir doch manchmal vor, als ob sie mir zuschaue.«
»Was macht sie denn, wenn sie da sitzt?«
»Sie kann hübsche Körbchen flechten, ganz kleine.«
»Wenn sie aber doch nichts sieht?«
»Sie meint, sie fühlt es. So was hätte sie in Breslau gelernt.«
Wieder wurde Pommerle nachdenklich. »Wenn sie aber doch gar nichts sieht, kann sie denn da froh und wohlgemut sein?«
»Sie sagt, sie ist zufrieden.«
»Ach, Jule, kann ich die Sabine nicht mal sehen?«
»Freilich, mußt mich mal besuchen kommen.«
Weiter gingen die Kinder. Pommerle hob die Augen zu den grünen Tannen und zum blauen Himmel auf. Dann drehte sie sich um und lief zur Tante. Weit breiteten sich die Kinderarme aus.
»Ach, liebe Tante, ich kann laufen, springen, ich kann alles sehen, den blauen Himmel, die Berge, den Wald und die liebe See. Aber die Sabine soll gar nichts sehen können. Ach, Tante, ich bin so froh und wohlgemut, daß ich das größte Gut habe!«
»Hast recht, mein liebes Pommerle.«
Darauf erkundigte sich das Kind sehr eingehend nach der blinden Sabine. Es war schwer, zu glauben und zu fassen, daß ein junges, sechzehnjähriges Mädchen gar nichts von der schönen Welt sehen sollte, daß es trotzdem zufrieden war und Körbchen flechten konnte.
»Wenn du ein sehr gutes Zeugnis im Schreiben heimbringst«, sagte der Professor, »gehen wir in den nächsten Tagen zu Meister Reichardt in die Werkstatt. Dort sollst du Sabine kennenlernen.«
»Stößt sie sich nicht furchtbar oft, wenn sie nicht sehen kann, wo sie geht?«