Pommerle gar zu gern wissen wollte, wie es sei, wenn man gar nichts sähe, schloß es die Augen. Vorläufig hing es freilich noch am Arm der Tante, da ging alles ganz gut.
Aber schließlich überkam es das Verlangen, sich auch einmal zurechtzutasten. Benders, die von Pommerles Absicht nichts ahnten, gingen ruhig des Weges weiter, bis sie plötzlich durch einen Wehruf aufmerksam wurden. Pommerle war über eine Baumwurzel gefallen und lag auf der Erde. Es rieb sich das aufgeschlagene Knie.
»Ich möchte doch nicht die Sabine sein«, sagte es kläglich. »Ich bin froh, daß ich die Gesundheit und das höchste Gut habe. Ach, es muß schrecklich sein!«
Das Schicksal der Blinden beschäftigte die Kleine noch immer, als man bei einbrechender Dämmerung schließlich Agnetendorf erreichte und in einem Gasthause Wohnung nahm. Pommerle kam sich wieder sehr stolz vor, als der Kellner ihm den kleinen Rucksack abnahm und freundlich sagte:
»Ist das kleine Fräulein sehr müde?«
Strahlend wandte sich das Kind den Pflegeeltern zu. Hoffentlich hatten sie es gehört, daß dieser große Herr von einem Fräulein redete.
Der Sonntag war ebenso strahlend schön wie der gestrige Sonnabend. So machte man sich zeitig auf den Weg nach Schreiberhau. Hin und wieder machte Professor Bender die Kinder auf eigenartig gewachsene Bäume, verschiedene Moose und Steine aufmerksam. Jule hatte sich bereits wieder einen Vorrat davon in die Taschen gesteckt. Er hatte auch schon einen großen Busch Tannengrün abgebrochen, den er seiner Meisterin mitbringen wollte. Professor Bender meinte zwar, daß dazu auf dem Heimwege noch Zeit genug wäre. Aber der Jule hatte es wieder sehr eilig. Gar bald störte ihn allerdings dieses Gepäckstück.
»Du hast nichts in den Händen, Pommerle«, meinte er, »trage mir das Grün doch ein wenig.«
Bereitwillig griff das gutmütige Kind danach. Der Jule, frei jeder Bürde, spähte sogleich nach allen Seiten aus, um interessante Steine oder Moose zu finden.
Kurz vor Schreiberhau machte Professor Bender plötzlich halt und wies kopfschüttelnd auf einen Schuttabladeplatz.
»Wie unschön! Hier an der großen Verkehrsstraße solch eine häßliche Müllabladestelle. Können die Leute ihre zerbrochenen Töpfe und anderes Gerümpel nicht an einer versteckter liegenden Stelle abladen?« Dann ging er weiter.
Aber Jule und Pommerle schauten wie gebannt auf jenen Haufen. Welche Schätze lagen hier zusammengetragen! Besonders das Vorderrad eines alten Fahrrades zog Jule mit unwiderstehlicher Gewalt an. Pommerle dagegen starrte auf einen mit Blumen bemalten Emailleeimer, der zwar keinen Boden mehr hatte, dessen rote Blumen aber gar so verlockend leuchteten. Und dort noch etwas! Dort lagen, allerdings an einen alten Lappen festgenäht, sechs herrliche Sprungfedern, wie man sie daheim in einer Matratze hatte. Mit solch einer Sprungfeder hatten die Kinder oben an der See tagelang gespielt. Es war herrlich, wenn der dicke Draht auf und nieder wippte. Und hier lagen viele dieser Schätze achtlos hingeworfen.
»Wo bleibt ihr denn?«
»Oooh«, sagte Pommerle, »wir kommen gleich, wir haben aber erst noch so viel Schönes zu sehen!«
Benders gingen weiter. Sie achteten nicht auf die beiden Kinder, die auf dem Haufen umherstiegen und nach weiteren Schätzen suchten. Pommerle riß und zerrte an den Sprungfedern.
»Jule, du hast doch ein Messer. Sie sind so fest angebunden.«
»Was willst du denn mit dem ollen Zeug?«
»Mitnehmen.«
Bereitwilligst trennte Jule die Sprungfedern von den alten Gurten ab. Entzückt nahm sie Pommerle in Empfang. Jule stand noch immer neben dem Rade und erklärte seiner kleinen Freundin, daß er gerade dieses Rad ganz vortrefflich brauchen könne. Er bastle nämlich seit Wochen an einem eigenen Fahrrad. Es fehlten freilich noch allerhand Teile dazu, aber vielleicht fände er noch weitere Stücke in dem Haufen.
Mit Händen und Füßen ging es ans Wühlen. Dabei schnitt sich Jule an Glasscherben tüchtig in die Finger.
Aus größerer Entfernung ertönte wieder die Stimme Professor Benders. Er rief nach den Zurückgebliebenen.
»Wie schade«, meinte Pommerle, »wir hätten sicherlich noch viel Schönes gefunden!«
Den bodenlosen Eimer mit den roten Rosen hing es an den Arm, es war nicht ganz leicht, auch noch die vier Sprungfedern mitzunehmen. Hilfesuchend blickte Pommerle auf Jule.
»Die grünen Tannenzweige mußt du dir jetzt aber allein tragen.«
»Ich habe doch mein Rad.«
»Ich kann nichts tragen.«
Da fing Jule an, Pommerles Schätze ineinanderzuschachteln. Die Sprungfedern wurden in den Eimer gelegt, obenauf kam der Strauß.
»Nun ja«, meinte Pommerle gutmütig, »so geht es.«
Beide Kinder eilten hinter Benders her, die, als sie Jule und Pommerle so beladen erblickten, stehenblieben. Was schleppte denn das Kind für einen Eimer am Arm? Was rollte der Jule neben sich her?
Pustend und schnaufend kamen die Kinder heran.
»Tante, schau, was wir Schönes gefunden haben!«
»Aber, Pommerle, was willst du denn damit?«
»Sieh nur, so einen schönen Eimer! Au, das wird fein, den stelle ich in den Garten. Im Sommer, wenn die vielen Schnecken da sind, ist das ihr Schloß. Sieh doch nur die schönen Rosen, herrlich!«
»Und das da?«
»Das ist ein feines Spielzeug, Tante. Sollst mal sehen, wie schön wir damit spielen werden.«
»Aber, mein Kind, du kannst doch unmöglich mit dem Eimer und dem Müll im Gebirge herumlaufen. Wir haben noch einige Stunden zu wandern. Es geht nicht!«
»Ach, doch, Tante, es geht schon«, meinte Pommerle.
»Na, und du, Jule? Was willst du mit dem verrosteten Rade?«
Mit Eifer verteidigten die Kinder ihre Schätze. Pommerle erklärte immer wieder, daß es einen so schönen Eimer in ganz Hirschberg nicht gäbe. Es wolle den Eimer behalten.
»Ich verspreche dir, Pommerle, daß ich dir in Hirschberg einige Sprungfedern besorgen werde. Diese Dinger werden fortgeworfen und der Eimer dazu.«
»Mein schöner Eimer, mein Schloß für die Schnecken! – Ach, es ist recht traurig. Sieh doch die schönen roten Rosen.«
»Ich will dir daheim auch einen Eimer geben.«
Jule dagegen war nicht zu bewegen, das Rad liegen zu lassen. Er meinte, er müsse ein Fahrrad haben, und es fehlten nicht mehr viel Teile dazu.
»So willst du das Rad durch Schreiberhau und weiter durch das Gebirge rollen? Aber töricht ist es von dir, Jule.«
»Ich möchte doch aber das Rad behalten.«
Lachend gab der Professor nach. Pommerle warf noch einen schmerzlichen Blick auf den schönen Eimer und die Sprungfedern; dann nahm es Jules Tannenstrauß wieder auf und trug ihn, weil Jule mit dem Rade zu tun hatte.
Man hatte Schreiberhau verlassen, da näherte sich der Spielgefährte dem kleinen Pommerle.
»Hier gibt es wieder so viel schöne Steine. Willst du nicht mal für 'ne Weile das Rad nehmen? Es macht viel Spaß.«
Aber ehe Pommerle eine Antwort geben konnte, hatte ihm der Jule das Rad in die Hand gedrückt und war davongelaufen.
Professor Bender sah es. Zunächst sagte er nichts. Aber plötzlich schwenkte er vom Wege ab.
»Wohin gehen wir?« fragte Frau Bender.
»Jule muß wieder einmal einen kleinen Denkzettel haben. Er ist ein guter, aber ein recht selbstsüchtiger Junge.«
Pommerle quälte sich mit dem Strauß und dem Rade. Es hatte ein rotes Köpfchen bekommen, als man endlich vor einem mächtigen Granitfelsen stand. Hier machte Professor