Walter Vogel

Die Religionsstifter


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beiden biblischen Dekalogsberichte unterscheiden sich an manchen Stellen voneinander und es ist nicht einfach, aus den beiden Texten genau zehn Gebote herauszulesen. So verwundert es nicht, dass die Juden eine andere Zählweise als die Christen haben, wobei die unterschiedlichen christlichen Konfessionen ihrerseits mehrere Zählvarianten kennen.

      Während viele der 613 Ge- und Verbote erst Jahrhunderte nach Mose entstanden sind, kann es gut sein, dass eine ursprüngliche Form von zehn ethischen Regeln tatsächlich auf Mose zurückgeht. Zwar gibt es im ägyptischen und im babylonischen Raum Parallelen zum Dekalog, es erstaunt aber sehr, dass auch in Kulturen außerhalb des biblischen Einflussbereiches (z. B. bei den Maori in Neuseeland) ähnliche Gebotstafeln entstanden sind. Eine dieser Gebotslisten, die der Masai in Afrika, sei hier exemplarisch angeführt:

      1. Ihr sollt euch kein Bild von Gott machen.

      2. Ihr sollt keine Menschen töten.

      3. Ihr sollt nicht das Eigentum eines anderen Masai nehmen.

      4. Ihr sollt euch vertragen und nicht miteinander streiten.

      5. Kein Mann soll die Frau eines Verheirateten berühren.

      6. Wenn ein Masai seinen Besitz verloren hat, sollen ihn die anderen unterstützen.

      7. Nur einer soll über euch herrschen.

      8. Der Mann soll immer nur eine Frau haben.

      9. Ihr sollt keine weiblichen Tiere töten.

      Das 10. Gebot schreibt zwei religiöse Feste im Jahr vor.

      Wickler, S. 55 f.

      Gerade in Gesellschaften, die des Lesens unkundig waren, dürften sich die Menschen zehn Lebensregeln leicht eingeprägt haben – zehn Gebote meint eine Lebensregel für jeden Finger an beiden Händen: Das wäre auch eine Erklärung, warum Mose zwei Gebotstafeln hatte.

      Auch das Lex talionis, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bei Strafen, dürfte von Mose vertreten worden sein. Es ist zwar schon in der Zeit vor Mose beispielsweise im mesopotamischen Codex Hammurapi (ca. um 1700 vor Chr.) bezeugt, aber erst Mose dürfte es bei den Israeliten eingeführt haben. Das Lex talionis beendete die archaischen Vergeltungsformen und regelte die Rache und die Vergeltung bei Straftaten:

      Wer einen Menschen erschlägt, wird mit dem Tod bestraft. Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen: Leben für Leben. Wenn jemand einen Stammesgenossen verletzt, soll man ihm antun, was er getan hat: Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der Schaden, den er einem Menschen zugefügt hat, soll ihm zugefügt werden. Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen; wer aber einen Menschen erschlägt, wird mit dem Tod bestraft. Gleiches Recht soll bei euch für den Fremden wie für den Einheimischen gelten; denn ich bin der Herr, euer Gott.

      Lev 24,17–22

      Im Gegensatz zur vormosaischen Zeit, wo etwa in Gen 34 berichtet wird, wie die Söhne Jakobs alle Männer einer Stadt töteten, weil einer von ihnen ihre Schwester Diana vergewaltigt hatte, regelte das Lex talionis das Maß der Strafen: Wer einem anderen das Auge ausschlägt, darf dafür nicht getötet werden, sondern auch ihm soll ein Auge ausgeschlagen werden – nicht mehr aber auch nicht weniger. Analog war bei den anderen Vergehen zu verfahren.

      Wie oben schon ausgeführt, dürfte die Landnahme bzw. die Sesshaftwerdung nicht Moses Ziel gewesen sein. Vielmehr war er seit seiner Flucht aus Ägypten bis zu seinem Tod ein Nomade. Aus diesem Grund können viele der Ge- und Verbote, die im Pentateuch Mose zugesprochen werden, nicht auf ihn zurückgehen, denn sie entsprechen nicht den Wüstenverhältnissen und setzen teilweise die Sesshaftwerdung voraus. So werden Feste beschrieben, die sich nicht in der kurzen Zeit seit dem Auszug herausgebildet haben können, sondern einen Entwicklungsprozess voraussetzen. Auch wenn in manchen Geboten der Ackerbau vorausgesetzt wird, wie in Ex 22,

      Wenn jemand ein Feld oder einen Weinberg abbrennt und das Feuer sich ausbreiten lässt, sodass es das Feld eines andern in Brand steckt, dann soll er den besten Ertrag seines Feldes oder Weinbergs als Ersatz dafür geben.

      Ex 22,4

      oder wenn gar Opfergaben von den Erstlingsfrüchten verlangt werden, wie in Ex 34,

      Von den Erstlingsfrüchten deines Ackers sollst du die besten in das Haus des Herrn, deines Gottes, bringen.

      Ex 34,26

      können diese Gebote in keiner nomadischen Gesellschaft entstanden sein. Ähnlich ist es bei den Sabbatgeboten, die fixe Arbeitszeiten voraussetzen, und bei den Erntegesetzen.

      Im Zentrum der Verkündigung des Mose stehen aber nicht die Ge- und Verbote, sondern der Glaube an den einen alleinigen Gott, der mit den Israeliten einen Bund schloss. Dieser Bund, der auch eine große Verpflichtung darstellt, ist für die Juden heute noch der Garant dafür, von Gott besonders ausgewählt zu sein. Im Schema Israel, das zusammen mit den nachfolgenden Bibelversen das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis bildet, bekennen die Juden diesen von Mose gelehrten Glauben an den einen Gott:

      Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.

      Dtn 6,4–9 (Erster Teil des Schema Israel)

      Die Entwicklung des Judentums nach Mosis Tod bis heute

      Abschließend sei hier noch das sogenannte kleine geschichtliche Credo erwähnt. Laut Ansicht mancher Forscher könnte es tatsächlich auf Mose zurückgehen und das von ihm gelehrte Glaubensbekenntnis gewesen sein.

      Du aber sollst vor dem Herrn, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen.

      Dtn 26,5–9

       Die Entwicklung des Judentums nach Mosis Tod bis heute

      Bald nach Mosis Tod zogen die Israeliten unter der Führung Josuas in das gelobte Land ein und wurden dort sesshaft. Zuerst regierten Richter über das Volk: Einzelne Personen, sowohl Männer als auch Frauen, hatten wichtige Leitungsfunktionen inne und zu ihren Aufgaben gehörte auch die Rechtsprechung.

      Um das Jahr 1020 gab es eine große Änderung: Mit Saul wurde der erste König Israels gesalbt. Seine Nachfolger waren David und dessen Sohn Salomo. Danach spaltete sich das Land in ein Nordreich (Israel) und in ein Südreich (Juda).

      Von den vielen einschneidenden Ereignissen des ersten vorchristlichen Jahrtausends seien hier noch zwei kurz erwähnt: Zum einen die durch Nebukadnezar erfolgte Eroberung Jerusalems und damit die Zerstörung des unter Salomo errichteten ersten Tempels im Jahre 586, die in eine bis ins Jahr 538 währende babylonische Gefangenschaft mündete. In dieser Zeit behielten die Juden nicht nur ihre Identität, sondern es entwickelten sich auch neue Quellen der Identität wie der Sabbat, die Beschneidung oder eine Reihe von Speisegesetzen. Nach der Heimkehr wurde der zweite Tempel errichtet, der über 500 Jahre lang das religiöse Zentrum der Juden war.

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