der Meister wieder da. Dann können Sie mit ihm sprechen.«
Thilo sah zu ihr hoch und wünschte mit einem Mal, diese junge Frau hätte ein Lächeln für ihn übrig. Aber ihr schmollender Mund und die feine Falte zwischen den Brauen machten ihm keine Hoffnung. Warum war sie so ungeduldig und patzig?
Noch einmal wagte er eine Frage: »Können Sie so freundlich sein und mir einen Blick in die Werkstatt gestatten?«
»Wozu das denn?« rief sie gereizt zu ihm hinunter.
»Wenn ich die Maschinen seh, weiß ich, ob ich mich leicht einarbeiten kann.«
Der Mann muß total übergeschnappt sein! dachte Barbara und schüttelte energisch den Kopf. »Dazu fehlt mir die Zeit. Grüß Gott!«
»Grüß Gott!« Thilo neigte den Kopf und verbarg seine Hände trotzig in den Hosentaschen. Mit einem Blick, der nun seinen Ingrimm verriet, wandte er sich dann ab.
Barbara atmete wie befreit auf. Da konnte ja jeder kommen und die Werkstatt besichtigen. Nicht auszudenken, was ihr Vater dazu sagen würde! Obwohl ihr die frische Luft so gut tat, weil sie die dumpfe Wärme der letzten heißen Tage in ihrer Wohnung vertrieb, schloß sie das Fenster. So kam der Fremde nicht auf die Idee, sie ein zweites Mal zu belästigen.
Aber nach einer Weile lugte sie vorsichtig hinaus. Der Fremde war fort. Sie konnte das Fenster wieder öffnen, als wäre eine Bedrohung, die sie sich nicht erklären konnte, gerade noch an ihr vorbeigegangen. Nur tief in ihrem Herzen wünschte sie, er würde doch noch mal zurückkehren. Es gab also tatsächlich Bedrohungen, die ein zartes Kribbeln in ihr auslösten. Barbara sah ein, selbst eine Lehrerin wie sie lernte noch etwas dazu.
Einige Minuten später betrat Thilo wieder den ›Dorfkrug‹. Der Wirt hatte den schweren Ledersack hinter die Theke geschafft. Wortlos zerrte er ihn jetzt hervor.
»Wann fährt der nächste Bus nach Oberau?« erkundigte Thilo sich.
»In einer halben Stunde.«
»Gut. Danke. Dann trinke ich noch einen Kaffee.«
Als der Wirt ihm den Becher mit Milchkännchen und Zuckerdose brachte, konnte er seine Neugier nicht bezähmen.
»Wollen Sie in Oberau Urlaub machen?«
»Nein. Ich bleibe dort nur wenige Tage. Dann komme ich noch einmal zurück.«
»Hm. Ich habe auch Zimmer zu vermieten«, meinte der Wirt.
»Danke, ich brauche kein Zimmer.«
Das war bedauerlich, denn der Fremde sah nach Geld aus. Der Wirt war sicher, er hätte ihm bestimmt sein teuerstes Zimmer andrehen können.
*
Einige Tage lang gingen immer wieder Regenschauer hinunter, die die schwüle Julihitze kurzzeitig abkühlten. An einem Abend, als die Sonne gerade hinter den Bergen versunken war, legte Gritli auf ihrem Abstieg von der Alm eine kurze Rast ein, um die schweren zwei Milchkannen abzustellen. Dabei wußte sie, daß Agnes auf die Abendmilch wartete, um damit die Käsebottiche aufzufüllen.
Drüben, von der anderen Seite des Tals leuchteten die Berge rosig wie frische Blütenblätter zu ihr hinüber. Es waren die letzten Sonnenstrahlen, die sie in dies zauberhafte Licht tauchten. Der herrliche Anblick, das wußte Gritli, verhieß aber nichts Gutes.
Es kam ein Hoch von Osten und auch eine warme, feuchte Strömung von Süden, und zwischendrin strahlte noch einmal die Sonne mit aller Kraft, bevor sie im Westen unterging. In dieser Nacht würde es sich nämlich entscheiden, ob sich das Hoch gegen die südliche Strömung durchsetzen konnte. Diese Wetterlage war selten und schwer einzuschätzen. Tante Theres hatte es ihr immer wieder erzählt.
»Hallo, Gritli!«
Clara saß in der Dämmerung vor dem Häuschen. Auf dem Tisch standen drei Kerzen, deren Flackern ihr beim Stricken Licht spendeten. Gritli schleppte die Milchkannen heran und trat neugierig näher. Sie hatte noch nie einer Frau beim Stricken zugesehen.
»Deine Schuhe sehen ja prächtig schmutzig aus«, schmunzelte Clara und ließ das Strickzeug sinken. »Warst etwa wieder oben auf dem Felshorn, bevor du die Milch vom Sepp geholt hast? Die Kannen sind aber nicht so schwer wie morgens, wie?«
Gritli zog die Nase kraus und lachte. »Das hast schon begriffen. Die frühe Milch wird unten an der Straße von der Molkerei abgeholt, nur die späte Milch wird Käse. Nein, auf dem Felshorn war ich lange nicht. Wenn, dann geh ich mit dir. Mußt nur richtige Schuh dazu haben!«
Schon faszinierten sie die beiden Nadeln mit der grauen Wolle. War sie vorlaut gewesen? Wie sollte Clara sich denn richtige Bergstiefel kaufen? Die gab’s nur in Oberau, und Inge Scholz war doch mit dem Wagen weggefahren. Nahm Onkel Sepp Clara mit nach Oberau, würde die Großmutter in die Luft gehen vor Zorn. War nicht schon alles übel genug, seitdem Inge frühzeitig zurück nach München verschwunden war? Gritli dachte flüchtig an den Brief, verdrängte den Gedanken aber schnell wieder. Der lag gut unter der Madonna auf der Kommode. Dort fand ihn keiner.
»Aber ich hab schon richtige Bergstiefel«, schmunzelte Clara.
»Das glaub ich dir nicht. Woher denn?«
Wie lieb Clara schaute, wenn sie dazu noch mit einem Auge zwinkerte! »Wenn du ’s nicht weitersagst, verrat ich ’s dir.«
Gritli hob die rechte Hand. Das hatte sie sich von Karli und Kurti abgeguckt, obwohl die sie nie an ihren Bubenspielen auf dem Schulhof mitmachen ließen. »Großes Indianer-Ehrenwort.«
Clara beugte sich vor. »Dein Onkel Sepp hat sie vom Speicher geholt«, flüsterte sie. »Sie gehörten deiner Mami, dem Hannerl, und er meint, du hast nichts dagegen, wenn ich sie trage. Sie passen wie angegossen.«
Gritli schluckte. »Meine Mami hat Bergstiefel gehabt?« staunte sie. Ihr wurde plötzlich bewußt, wie wenig man ihr von ihrer Mutter erzählte. Mehr, als daß sie bei ihrer Geburt gestorben war, hatte sie nie erfahren. Und war das nicht bitter genug für ein einsames Kind wie sie?
»Hat er auch die Wolle in der Truhe auf dem Speicher gefunden?« fragte sie leise mit angespannten Gesichtszügen. Clara nahm ein Knäuel, legte es auf den Tisch und beugte sich dann vor, bis sie Gritlis Arm berühren konnte.
»Ja, das hat er. Meinst du, sie gehörte auch deiner Mami?«
»Ich weiß nichts von meiner Mami.«
»Du weißt nichts? Ja, erzählt dir keiner von ihr, wenn du fragst?«
»Nur wenig. Sie hat ’s nicht geschafft, als ich geboren wurde.«
»Wahrscheinlich hat die Wolle tatsächlich deiner Mutter gehört. Ich hoffe, du erlaubst mir, aus der Wolle eine Weste zu stricken.«
»Klar. Dann bleibst du doch noch… bis die Weste fertig ist.«
Stundenlang konnte sie dann zuschauen, wie Clara eine Masche nach der anderen geschickt von Nadel zu Nadel gleiten ließ. Sie quetschte sich neben Clara auf die schmale Bank, streckte die Füße mit den schmutzigen Stiefeln aus und lehnte sich vorsichtig an die Schulter der jungen Frau.
Clara lächelte. »Ich hab’ noch nicht mal den Bund fertig. Und es wird ja eine große Weste.«
»Für Onkel Sepp?«
»Für wen denn sonst?« kicherte Clara und neigte den Kopf, bis ihre Haare Gritlis Stirn kitzelten. »Aber sag ’s nicht weiter.«
»Ich verrat’s der Großmutter nicht. Sonst wird sie fuchsteufelswild. Und du sagst ihr gewiß auch nicht, daß ich so gern bei dir hock. Gelt?«
»Sie spricht doch kein einziges Wort mit mir.« Das klang traurig, so daß Gritli schnell weitersprach:
»Und auf’s Felshorn gehst auch nicht allein. Nicht mal mit den guten Bergstiefeln. Wenn ein Unwetter kommt, bist verloren, Clara.«
»Ich werde nicht allein sein, Gritli.«
»Versprichst mir das? Denn der Herrgott hilft dir auch nicht, wenn’s haarig wird. Das