zog. „Warte.” Anschließend stieg er aus dem Auto aus, schloss die Tür erneut und stand nur ein paar Meter davon entfernt, als die Männer sich annäherten.
Maya biss die Zähne zusammen und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Würden sie dieses Boot betreten und das Ufer verlassen, dann verminderten sich ihre Chancen erheblich, jemals wieder gefunden zu werden. Sie konnte nicht hören, was die Männer sagten, sie vernahm nur leise Töne, als Rais sich mit ihnen unterhielt.
„Sara”, flüsterte sie. „Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe?”
„Ich kann das nicht.” Saras Stimme zitterte. „Ich werde das nicht...”
„Du musst es tun.” Sie waren immer noch aneinandergefesselt, doch die Rampe, über die man das Boot betrat, war schmal, kaum mehr als einen halben Meter breit. Sie müssten ihnen die Handschellen abnehmen, sagte sie sich. Und wenn sie das täten... „So bald ich mich bewege, rennst du los. Finde Leute, verstecke dich, falls notwendig. Du musst -”
Sie schaffte es nicht, auszusprechen. Die Hintertür wurde aufgerissen und Rais spähte zu ihnen herein. „Raus jetzt.”
Mayas Knie wurden weich, als sie aus dem Rücksitz glitt, gefolgt von Sara. Sie zwang sich dazu, die beiden Männer anzusehen, die von dem Boot herunter gekommen waren. Sie hatten beide helle Haut, mit dunklen Haaren und düsteren Gesichtszügen. Einer der beiden hatte einen dünnen Bart und kurzes Haar, er trug eine schwarze Lederjacke. Seine Arme waren über der Brust verschränkt. Der andere trug einen braunen Mantel und sein Haar war um die Ohren herum länger. Er hatte einen Schmierbauch, der über seinen Gürtel quoll, und ein spöttisches Grinsen auf den Lippen.
Dieser Mann, der stämmige, umlief langsam die beiden Mädchen. Er sagte etwas in einer Fremdsprache - Maya bemerkte, dass es dieselbe Sprache war, die Rais am Telefon im Motelzimmer verwendet hatte.
Dann sagte er ein einziges Wort auf englisch.
„Hübsch.” Er lachte. Sein Kumpane in der Lederjacke grinste. Rais stand stoisch da.
Dieses einzige Wort löste ein Verständnis in Mayas Gehirn aus und zog sich wie eisige Finger um ihren Hals. Da geschah etwas viel Heimtückischeres, als sie nur außer Landes zu bringen. Sie wollte nicht mal daran denken, geschweige denn, es ergründen. Das konnte nicht wahr sein. Nicht das. Nicht mit ihnen.
Ihr Blick fand Rais’ Kinn. Sie konnte es nicht aushalten, in seine grünen Augen zu sehen.
„Sie.” Ihre Stimme war leise, zitternd, sie rang um ihre Worte. „Sie sind ein Monster.”
Er seufzte sanft. „Vielleicht. Das ist alles nur eine Frage der Perspektive. Ich muss die See überqueren und ihr seid mein Tauschhandel. Mein Ticket, sozusagen.”
Mayas Mund wurde trocken. Sie weinte oder zitterte nicht. Sie fühlte sich einfach nur kalt.
Rais verkaufte sie.
„Ähm.” Jemand räusperte sich. Fünf Paar Augen schauten aufmerksam, als ein Neuankömmling in den trüben Schein der Bootslampen trat.
In Mayas Herz blitzte eine plötzliche Hoffnung auf. Der Mann war älter, vielleicht um die fünfzig, er trug Khakis und ein gebügeltes, weißes Hemd - er sah offiziell aus. Unter einem Arm hielt er einen weißen Schutzhelm. Rais hatte sofort die Glock gezückt und auf ihn gerichtet. Doch er schoss nicht. Andere würden es hören, merkte Maya.
„Heeey!” der Mann ließ seinen Helm fallen und hielt beide Hände hoch.
„Hey.” Der Ausländer in der schwarzen Lederjacke trat vor, zwischen die Waffe und den Neuankömmling. „Hey, ist gut,” sagte er mit einem Akzent. „Ist OK.”
Maya stand vor Verwirrung der Mund offen. OK?
Als Rais langsam die Pistole herunternahm, reichte der dünne Mann in seine Lederjacke und zog einen zerknitterten, braunen Umschlag heraus, der drei Mal gefaltet und mit Klebeband verschlossen war. Etwas Dickes, Rechteckiges war darin, wie ein Backstein.
Er übergab ihn, während der offiziell aussehende Mann seinen Schutzhelm wieder aufsammelte.
Mein Gott. Sie wusste genau, was in dem Umschlag war. Dieser Mann wurde bezahlt, um seine Mannschaften fernzuhalten, um diesen Teil des Kais freizuhalten.
Wut und Hilflosigkeit stiegen gleichzeitig in ihr auf. Sie wollte ihn anschreien - bitte, warten Sie, Hilfe - doch dann trafen ihre Blicke sich, nur für eine Sekunde, und sie wusste, dass es sinnlos war.
Da war keine Reue in seinen Augen. Keine Freundlichkeit. Kein Mitgefühl. Kein Ton entsprang ihrer Kehle.
Genauso schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand der Mann auch wieder zurück in die Dunkelheit. „Eine Freude, ein Geschäft mit Ihnen zu machen”, murmelte er, als er verschwand.
Das kann nicht passieren. Sie fühlte sich taub. Niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie jemanden getroffen, der tatenlos zusah, während Kinder ganz offensichtlich in Gefahr waren - und dann noch Geld annahm, um nichts zu tun.
Der schmierbäuchige Mann bellte etwas in seiner Fremdsprache und machte eine wage Bewegung in Richtung ihrer Hände. Rais antwortete Etwas, das wie ein knappes Argument klang, doch der andere Mann bestand darauf.
Der Attentäter sah verärgert aus, als er in seiner Tasche wühlte und einen kleinen, silbernen Schlüssel herauszog. Er griff nach der Kette der Handschellen und zwang die beiden dazu, ihre Handgelenke anzuheben. „Ich werde die euch jetzt abnehmen”, erklärte er ihnen. „Dann gehen wir auf das Boot. Wenn ihr lebendig auf das Festland zurück wollt, dann bleibt ihr besser still. Ihr tut, was man von euch verlangt.” Er steckte den Schlüssel in die Handschelle um Mayas Hand und öffnete sie. „Und denkt nicht mal dran, ins Wasser zu springen. Keiner von uns wird hinter euch herspringen. Wir werden euch dabei zusehen, wie ihr erfriert und untergeht. Das braucht nur ein paar Minuten.” Er öffnete Saras Handschelle und sie rieb instinktiv ihr wundes, gerötetes Handgelenk.
Jetzt. Mach schon. Du musst jetzt was tun, schrie Mayas Gehirn sie an, doch es schien, als könnte sie sich nicht bewegen.
Der Fremde in der schwarzen Lederjacke trat hervor und griff schroff nach ihrem Oberarm. Der plötzliche, körperliche Kontakt riss sie aus ihrer Lähmung und ließ sie handeln. Sie dachte nicht einmal darüber nach.
Ein Fuß schnellte in die Höhe und trat Rais in den Unterleib, so hart, wie sie es konnte.
Während dies geschah, blitzte eine Erinnerung durch ihr Gedächtnis. Sie brauchte nur einen Augenblick, doch es kam ihr viel länger vor, als ob alles um sie herum sich langsamer abspielte.
Kurz nachdem die Amun Terroristen versucht hatten, sie in New Jersey zu entführen, hatte ihr Vater sie eines Tages zur Seite genommen. Er musste seine Deckungsgeschichte aufrecht erhalten - sie waren Mitglieder einer Gang, die junge Mädchen als Teil einer Initiation entführten - doch er hatte ihr erklärt: Ich werde nicht immer für dich da sein. Es wird nicht immer jemanden geben, der dir hilft.
Maya spielte schon seit Jahren Fußball. Sie hatte einen kräftigen und gut positionierten Tritt. Ein zischender Atemzug entfloh Rais, als er sich vornüberbeugte und seine beiden Hände impulsiv zu seinem Unterleib flogen.
Wenn dich jemand angreift, insbesondere ein Mann, dann tut er das, weil er größer ist. Stärker. Er ist schwerer als du. Und deswegen glaubt er, er könne mit dir machen, was er wolle. Dass du keine Chance hast.
Sie riss ihren linken Arm nach unten, schnell und brutal, und befreite sich von dem Lederjackentypen. Sie schnellte vorwärts und überrumpelte ihn.
Du brauchst nicht fair zu kämpfen. Du tust, was immer du tun musst. Unterleib. Nase. Augen. Du beißt. Du schlägst um dich. Du schreist. Die kämpfen ja auch nicht fair. Warum solltest du es tun?
Maya drehte sich erneut um sich und schwang gleichzeitig ihren dünnen Arm in einem weiten Bogen. Rais war vornübergebeugt, sein Gesicht war ungefähr auf Augenhöhe