Monika Detering

Zitronenhimmel


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ich mich auf den Weg und kam Mitte Oktober hier an. Die Grippe, die mich dann erwischte, machte mir den Winter schwer. Dann kamst du und brachtest mir Essen, auch die Nachbarinnen kümmerten sich. Da hatte keiner von euch etwas vom Durcheinander im Van gesagt, und heute zeig ich es nicht mehr. Dass ich so gute Nachbarn bekommen habe …«

      Mehr mochte Charleen nicht erzählen.

      Sie bekam dieses ziehende flaue Gefühl im Bauch, viel zu viel von sich preisgegeben zu haben. Sie kannte Ekkard zwar, aber doch auch wieder nicht. Gleichzeitig tat sein Zuhören gut.

      Aber das nahm ihr nicht die einsamen Momente in ihrem Wohnmobil, wenn sich nutzlose Leere auftat.

      »Sollen wir noch über deine Lesung sprechen? Die ist doch bald«, fragte Ekkard.

      »Ach du je. Die habe ich fast vergessen, ich war noch gerade in den Kastanienwäldern … Wissen die anderen schon darüber Bescheid?«

      »Wir haben doch zusammen Plakate aufgehängt. Schon vergessen?«

      »Ich will aber aus meinem letzten Roman nicht lesen. Mir ist nicht nach heiter. Warum nicht eine Nachtlesung mit Gedichten?«

      »Sag bloß, diese Sterbetexte, meinst du die?«

      »Ja. Warum denn nicht?«

      »Meinst du, die Dorfbewohner haben Lust, etwas darüber zu hören? Nie! Sie wollen Liebesgeschichten, sie brauchen Träume! Gib sie ihnen! Lies aus ›Lilofee‹, aber nichts über den Tod. Gibt deinen Zuhörern Gefühle, gib ihnen Liebe! Schenk ihnen ein Lachen! Das ist es, was sie brauchen.«

      »Woher willst du das alles so genau wissen? Glaubst du, alle wollen nur kichern?«

      Charleen drückte ihm den dünnen Band mit jenen Texten in die Hand. Er blätterte. »Aber so kennt dich keine deiner Leserinnen. Jetzt haben wir uns gerade an dich gewöhnt als Schriftstellerin mit Wohnwagen, fragen uns, was hat sie bisher gemacht, hat sie Familie, einen Mann, wie ist sie? Mach es dir nicht schwer! Ich sag’s dir gleich, das wird nix.«

      »Auch in Romanen wird gestorben. Immer leben zu bleiben ist nur eine ewige Sehnsucht. Ich würde das schrecklich finden.«

      Sie begannen über den Tod und die Liebe zu diskutieren, so lange, bis der Wein ausgetrunken war, Schatten sich auf den Gesichtern ausbreiteten und die Vögel sangen.

      »Das geht jetzt aber nicht ständig so weiter. Du kommst, bringst was zu essen mit, und wir verreden die Nächte.«

      »Ich dachte, du wolltest kein Leben mehr nach Maß?«

      ***

      In der Frühe räumte sie Gläser und leere Weinflaschen weg, radelte zum Bodden und schwamm so lange, bis sie wach war, während ein Entenpärchen mit zotteliger Punkfrisur sie beobachtete.

      Liebe Oma Charly,

      da staunst du, was? Ich habe ja die Fotos gesehen, die du geschickt hast. Und jetzt bist du an der Ostsee? Mit Opas Van? Papa sagt, du hättest einen Knall. Mama guckt komisch und streng, wenn ich nach dir frage. Ihr habt euch gezankt, hab ich doch mitgekriegt. Vertragt euch. Ich würde dich nämlich gerne in den Sommerferien besuchen. Hast du Platz für mich, dann komme ich. Taschengeld habe ich genug. Ich find’s richtig doof, dass ich dich ewig nicht gesehen habe. Ich muss dich auch etwas fragen. Im Religionsunterricht sprechen wir über den Tod und das Sterben und wie das wohl alles so ist. Ob es eine Seele gibt und wo die bleibt, wenn einer gestorben ist. So richtig weiß das der Lehrer anscheinend nicht. Aber du schreibst doch Bücher, und vielleicht weißt du es ja. Ob Gott wohl einen Computer hat? Könnte ich ihm Mails schicken?

      Weiß er, wie sich das anfühlt, wenn man tot ist? Also, wenn ich mir vorstelle, ich wäre auf ewig nur kalt und starr wie Opa, und man gar nichts mehr fühlt, will ich nicht sterben.

      Weißt du vielleicht, ob man nicht wiedergeboren werden kann? Davon haben wir auch gesprochen. Vielleicht hätte ich dann später, also ganz viel später, ein Leben als Sängerin? Ich singe gerne – so etwas wäre also möglich?

      Oder muss man wirklich sterben? Oder gibt es irgendetwas, was den Tod aufhält? Könnte doch sein. Oder kommt man in eine Stadt, in der man weiterleben kann?

      Mein Lehrer hat gesagt, ich soll nicht so viel fragen.

      Kannst du mir was dazu schreiben? Ich möchte das wissen. Nachher bin ich tot und ich weiß über nichts Bescheid. Das wäre doch schrecklich. Ich habe ja noch mehr Fragen und die ganze Klasse muss ein Heft zu dem Thema machen. Wenn es fertig ist, kann ich es dir schicken. Nur, wenn du es haben möchtest.

      Ganz viele Grüße von deiner Lisa

      Charleen hatte mit vielem gerechnet. Aber nicht mit solchen Fragen. Die mir zu stellen, wo ich doch mit Leben nach dem Tod nichts am Hut habe. Soll ich Lisa kommen lassen? Im ›Hector‹ ist es zu eng, ich hab ja meinen ganzen Kram darin. Ob Kathrin sie alleine fahren ließe? Besser wäre, die Familie käme und ich würde ihnen eine Ferienwohnung mieten.

      Wie kommt Lisa auf die Frage nach der Wiedergeburt? Komme ich als Krokodil oder als Hähnchen in einem Mastbetrieb wieder? So etwas kann ich doch nicht schreiben. Muss ich drüber nachdenken.

      Sie faltete das Papier zusammen und schob es in den Umschlag zurück, betrachtete die wilden und bunten Blumen darauf, die Lisa gemalt hatte.

      Wie ist das, wenn man gestorben ist? Ich weiß es doch auch nicht. Das weiß niemand. Was soll ich bloß antworten?

      Ich find’s schwierig, sich vorzustellen, nicht mehr zu sein. Nicht mehr der Mensch zu sein, der man ist oder der man war. Vielleicht als einen tiefen immerwährenden Schlaf, aus dem ich niemals mehr erwache. Den ich natürlich auch nicht weiß. Dass ich nie mehr ein Bewusstsein haben werde. Das kann ich mir vorstellen. Obwohl dieses ›Nie mehr‹ ein quälender Gedanke ist.

      ***

      Das Dorf war kein Ort der Eile. Hinter den Häusern leuchtete das Rapsmeer. Etwas weiter kam eine grün gestrichene Stallanlage in Sicht. Das nüchterne Gebäude sah nach Arbeit aus. In den weiten blauen Himmel ragte der kurze Turm der alten Backsteinkirche, und wenn man weiterradelte, war das kleine Schloss zu sehen, das nach und nach wiederhergestellt wurde. Krieg und Vandalismus sowie Schwammbefall hatten es nicht unterkriegen können. Dieses alte Herrenhaus hatte neben seiner architektonischen Schönheit auch eine tragische Geschichte, die von Mord und Enteignung berichtete. Birken und Weiden tupften in das blaue Bild. Die Luft duftete bitterscharf, ein bisschen nach Gras, während ein leichter Wind die Hitze verwirbelte.

      ***

      Neben dem Wohnmobil wehte Wäsche auf einem Klappständer. Und dieser Geruch nach Frische, Sauberkeit, nach Wind führte Charleen in die Vergangenheit; sie sah sich als Kind, sah ihre Mutter …

      Neben ihr stand die Obstkiste, die Tisch und Regal war. Hühner nörgelten. Auf der Straße ratschten Frau Güse, Frau Holbein und Frau Venderbusch. Man konnte sie gut hören. Güse und Holbein waren um die siebzig und Frau Venderbusch fünfundachtzig. Bei der hing Dürers Hase im Flur, den sie ab und an abnahm und draußen abstaubte. »Von meinem Vater«, hatte sie erklärt. Daneben buhlte ein Familienfoto, 13 × 18 cm, im pompösen Rahmen um Aufmerksamkeit. Die beiden anderen Frauen hatten Fotos vom Bodden rahmen lassen und die Bilder für ihre Gäste aufgehängt. Wie die drei dastanden! Ein Dreieck mit Nasen, die wie eigenständige Gliedmaßen aus ihren Gesichtern hervorragten. Breitbeinig mit kräftigen Waden und festem Schuhwerk. Wegen ihrer grauweißen kurzen Haare konnte man sie für Schwestern halten. Zumindest waren sie Dorfschwestern. Konnten ohneeinander nicht sein und doch furchtbar über die anderen schimpfen. Aber – ihnen konnte niemand mehr etwas vormachen. Sie hatten ihre Lektionen gelernt. Die DDR hatten sie mit wechselnden Meinungen durchgestanden. Erst Sowjetische Besatzungszone, ab 1949 dann DDR, danach die Bodenreform, es kamen ausgebombte Stralsunder und Flüchtlinge aus dem entfernteren Osten. Die Einwohnerzahl des Dorfes erhöhte sich und sank zur Zeit der Wiedervereinigung kräftig ab. In den Neunzigerjahren richteten der Naturschutzbund Deutschland sowie der WWF Deutschlands einziges