Hause sitzend im Stich gelassen fühlen. Das alles trug wirklich zum Erfolg unserer Fernbeziehung bei, doch der wesentlichste Punkt wurde mir erst bewusst, als ich die wenigen Wochen zwischen Kanada und Peru in Europa verbrachte: Zwischen Ottawa und Lima lag nur eine Stunde Zeitunterschied. Ein halbes Jahr lang erreichten Tom und ich uns praktisch problemlos abends vor dem Schlafengehen auf Skype. Während ich drei Wochen in Österreich war und die Zeitverschiebung plötzlich sechs Stunden betrug, sprachen wir viel seltener miteinander. Oft blieb dann eine Person enttäuscht zurück, wenn das Gespräch abrupt endete, weil der oder die andere noch etwas vorhatte. Da wurde mir klar, was uns außer unserer Liebe durch diese Zeit getragen hat – eine simple Uhrzeit, die es uns ermöglichte, trotzdem gemeinsam durch den Alltag zu gehen.
Tom zeigt mir sein Lima, all das, wovon er mir auf Skype erzählt hat, und ich fühle mich in den ersten Wochen als Besucherin, die diese fremde Stadt besichtigt. Es ist eine Stadt voller Ruß und Dreck, voller Lärm und Lichter, voller Flugzeuge, die man zwar ständig hört, aber vor lauter Smog nicht sieht. Eine Stadt voller Möglichkeiten, die man sich entweder nicht leisten kann oder zu denen man zu spät kommt. Eine Stadt voller Armut und extremem Reichtum, voller Alarmanlagen und Mauern um die Häuser. Ein etwas verrückter Mann lebt in unserem Viertel, er spielt den Straßenartisten, ohne wirklich etwas zu können, hält die Autos auf, tänzelt und lächelt dämlich dabei. Dann winkt er allen lustig zu, und nächstes Mal sehe ich ihn an einer anderen Kreuzung mit einem riesigen Plastikflieger Kunststücke vorführen. Manchmal ist er auch mit einem riesigen Holzkreuz auf der Schulter unterwegs. Mit seinem langen, grauen Bart, den zerrissenen Kleidern und den Sandalen aus alten Autoreifen sieht er tatsächlich aus wie ein kurz vor der Pensionierung stehender Jesus. Die Leute halten ihn für verrückt. In dieser Stadt erscheint er mir ganz normal.
Nach und nach beginne ich, mich hier einzuleben. Die Frau vom Laden unten, der Bäcker gegenüber, der Bettler an der Straßenecke, die Leute kennen mich inzwischen und grüßen. Die Gringa fällt natürlich auf, nicht nur weil sie selten Plastiktaschen annimmt, sondern auch optisch. Alle sind freundlich zu mir. Wenige hier im Viertel dürften so zuverlässige Kunden sein wie ich, die junge weiße Frau, die noch dazu selten einen Preis nachverhandelt. Doch mit der Zeit lerne ich, mich auf dem Markt beim Kauf von Früchten und Gemüse nicht linken zu lassen und, wenn schon nicht den Preis der Einheimischen, dann doch zumindest einen besseren Preis als den üblichen Touristentarif zu bekommen. Als Tom wieder zur Uni muss, habe ich plötzlich wahnsinnig viel freie Zeit, allein. Mir beginnt aufzufallen, dass ich nun seit fast vier Wochen in Lima bin und immer noch kein einziges Mal die Sonne gesehen habe, weil der versmogte Winterhimmel hier konstant grau ist. Es wird Zeit, dass ich mir eine Beschäftigung suche, oder zumindest ein Hobby, einen Sport, Leute, denen ich mich anschließen kann. Auf Studentenpartys von Toms Uni lerne ich nach und nach Leute kennen, mein Spanisch ist dafür gut genug und Schüchternheit schon lange kein Thema mehr. Meine erste Frage, so wie überall, wo ich hinkomme, lautet bald: »Wo kann man hier tanzen gehen?«. Tanzen ist für mich wie atmen, es ist mein Ventil und meine Meditation. In Südamerika sollte es doch hoffentlich leicht möglich sein, andere Tanzbegeisterte zu finden. Doch auch das braucht Zeit, denn die Leute, die mir versprechen, mich in ein paar gute Clubs mitzunehmen, leben nicht nach mitteleuropäischem Terminkalender. Es dauert also ein paar Wochen, bis ich einige Tanzlokale kennenlerne und sie auch gut genug kenne, um notfalls alleine hingehen zu können. Meine neu gewonnenen Freunde nehmen mich außerdem mit zu Akrobatik-Trainings, womit ich bisher kaum etwas zu tun hatte. Auch das macht mir viel Spaß. Was mich aber von Anfang an deprimiert, ist zu wissen, dass das alles nicht lange anhalten wird.
Noch vor einem halben Jahr habe ich mir auf die gleiche Art in Kanada einen Alltag aufgebaut: Sport, Freunde, Partys. Ich war am Ende traurig, das alles zurücklassen zu müssen, ich vermisse manchmal die Orte und Menschen, die ich regelmäßig besucht habe. Zu manchen halte ich Kontakt über Facebook, WhatsApp oder Skype, viele verliere ich schnell wieder aus den Augen. Es sind Vorgänge, die in unserer globalisierten Welt schon normal sind. Wer hält denn heute noch jahrelang Brieffreundschaften à la Jane Austen mit einer Person, der er ein, zwei Mal begegnet ist? Bei manchen Bekanntschaften erwische ich mich aber auch bei dem Gedanken: »Zum Glück haben wir den maximal ein paar Monate am Hals«, und ich erschrecke über meine eigene Abgebrühtheit. Sind Menschen für uns schon so austauschbar geworden wie H&M-Klamotten? Oder will ich mich selbst nur vor dem nächsten Abschiedsschmerz schützen, wenn ich mich auf neue Menschen schon gar nicht mehr richtig einlasse? In Kanada habe ich eine Bekannte aus Wien getroffen, die für ihr Doktorat einige Monate dorthin gezogen ist. Ich fragte sie, wie sie sich eingelebt hat, und sie meinte nur: »Ich hab mir wieder einen Judo-Verein gesucht, die Kollegen in der Arbeit kennengelernt, und dann war’s eh ›Geht schon weiter, normales Leben halt!‹«. Ich war fasziniert. So einfach und unkompliziert sah sie das?! War sie blind oder ich so kompliziert? Ich habe mir auch wieder Möglichkeiten gesucht, um Sport zu treiben und Studienkollegen kennengelernt, aber deshalb führe ich doch nicht gleich wieder das gleiche Leben wie zu Hause – oder? Menschen zu finden, die tatsächlich mit mir auf derselben Wellenlänge sind, denen ich Vertrauen schenke, braucht Zeit. Ich finde den halbjährlichen Wechsel meines Freundeskreises bereits anstrengend. Ich muss an meinen Vater denken, der von jeder seiner Reisen neue Kontakte mitbringt und der an seinem Geburtstag immer ganz stolz aufzählt, aus wie vielen Ländern er bereits Grüße auf Facebook erhalten hat. Dabei weiß ich nur von einer Person, mit der er seither tatsächlich eine feste Freundschaft aufgebaut hat. Und wenn man ihn nach der Zeit des Reisens fragt, dann gibt auch er zu: Viele Abende verbringst du unterwegs trotzdem mit dir selbst. Wie muss es denn jenen gehen, die monate- oder jahrelang permanent ihren Aufenthaltsort wechseln? Reisende sind ständig unter Menschen und doch oft furchtbar allein.
NACH HAUSE TELEFONIEREN
Die ersten Reisen, an die ich mich erinnern kann, habe ich mit meinen Eltern und der Familie meines Onkels nach Italien unternommen. Strandurlaub in Jesolo, das Bilderbuchklischee der Neunzigerjahre. Das Viersternehotel hieß »Cambridge«, wie passend für Italien, das Frühstücksbuffet war riesig, zumindest für mich als Siebenjährige, die zuvor noch nie in einem Hotel gewesen ist. Ich ernährte mich trotzdem vorwiegend von der bereits in Würfel geschnittenen Wassermelone, die ich am ersten Tag am Buffet entdeckte. Jeden Tag wachte ich vor allen anderen auf und lief hinunter zum Pool, um eifrig Liegen für alle zu reservieren. Bis meine Eltern zum Frühstück erschienen, hatte ich bereits drei Schüsseln voller Wassermelone verdrückt. Dann blies ich mein Gummikrokodil auf und planschte damit im Pool herum. Nachmittags gingen wir an den Strand, wo meine älteren Cousinen mich bis zur Hüfte im Sand eingruben, während die Erwachsenen im Schatten lasen, schliefen und Zigaretten rauchten – schließlich waren sie im Urlaub. Ich erinnere mich, dass der Sand so heiß war, dass ich zur Strand-Eisdiele rennen musste, um mir nicht die Füße zu verbrennen. Abends vollzog sich immer dasselbe Ritual, das ich liebte: Alle zogen sich schick an, dann gingen wir ins Hotelrestaurant, wo uns ein dreigängiges Menü erwartete. Jeden Tag derselbe Tisch, derselbe Kellner, der mich »Signorina« nannte, wechselnde Pasta-Gerichte mit viel Parmesan und jeden Tag das gleiche Dessert-Buffet, auf das ich mich mit gleichbleibender Begeisterung stürzte. Danach bummelten wir durch die Stadt, mit großen Augen vorbei an den Touristen-Strandshops, vorbei an bunten Luftmatratzen, Flip-Flops und Bolero-Tüchern. In der Ferne sah ich den Luna-Park leuchten, den ich nie erreichen sollte. Ich konnte nur fasziniert die Glücksspielmaschinen und die unglücklichen Menschen, die den Hütchenspielern auf den Leim gingen, beobachten. Mein Vater klärte mich über ihre Tricks auf, während meine Mutter Souvenirs beäugte. Die Abende endeten stets im selben Lokal, wo die Erwachsenen Bier und Wein tranken, während meine Cousinen und ich in der Hollywoodschaukel sitzend selig riesige Schoko-Frappés schlürften. Es war wunderbar. Im folgenden Jahr wiederholte sich der Urlaub fast identisch, bis auf ein paar denkwürdige Ereignisse: Ich lernte im Hotelpool schwimmen, worauf ich mächtig stolz war, ich erlebte unwissentlich mein erstes Déjà-vu, was mich über zwei Jahre lang glauben ließ, dass ich übernatürliche Fähigkeiten hätte, und ich wurde bei einem Tretboot-Ausflug sehr schmerzhaft von einer Qualle erwischt.
Irgendwann, von meinem inzwischen in die Pubertät geratenen Selbst kaum registriert, endeten diese Familienurlaube einfach unkommentiert.