Claudia Endrich

Das nächste Mal bleib ich daheim


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entschied, dass sie nicht gerne wegfuhr, hing mein Vater immer öfter großen Reiseträumen nach. Bereits in seinen Zwanzigern hatten er und seine Kumpels mit ihren Motorrädern die ganze Südhälfte Europas befahren, Griechenland, Türkei, Spanien, alles mit Zelt und wahrscheinlich viel zu viel Alkohol. Später, nach zahlreichen Jahren des Buckelns und Schuftens für die Familie, in denen er sich aus seiner Sicht sonst nichts gegönnt hatte, plante er seine ersten so lange ersehnten Rucksackreisen auf fremde Kontinente: Sein erstes Abenteuer führte ihn für drei Wochen nach Brasilien, zu indigenen Völkern an den Amazonas, die ganz anders waren als alles, was er davor gekannt hat, und die ihn unglaublich faszinierten. Er brachte viele Geschenke mit nach Hause, viel Schmuck, manches sogar mit Anhängern aus Affenzähnen, Taschen und Tücher. Das alles trug ich, inzwischen sechzehn Jahre alt, wie Trophäen in der Schule zur Schau. Alle Nachbarn und Verwandten waren beeindruckt von der Abenteuerlust meines Papas, ich am allermeisten. In unserer öden Kleinstadtwelt war dies eine interessante Neuigkeit für viele, darum zeigte er wochenlang jeden Abend seine Fotos dem ständig wechselnden Besuch. Ich wohnte seinen sich immer ähnlicher werdenden Vorträgen stets bei und wusste schon bald, welche Fotos und Geschichten aufeinanderfolgten. Ab diesem Zeitpunkt war ich angefixt von der Idee der großen, weiten Welt. Als ich siebzehn war und mein Vater mit dreiundvierzig eindeutig in der Midlife-Crisis angekommen schien, machte er entgegen allen Erwartungen in der Familie ernst, meldete bei seinem Arbeitgeber ein Sabbatical an und packte seinen Rucksack für ganze sechs Monate: von Alaska nach Feuerland lautete sein Plan. Was ich heute für ein fürchterliches Klischee halte, war damals revolutionär, zumindest in meiner kleinen Welt. Das Smartphone war erst kürzlich erfunden worden, Papa reiste noch mit Digitalkamera und benutzte unterwegs Internetcafés. Fotos per E-Mail zu versenden war aufwendig und dementsprechend selten. Auf Google Maps und mit Routenplaner verfolgte ich seine Reise, nachdem er wieder eine E-Mail aus einer neuen Stadt geschrieben hatte. Sein Vorbild war das Buch eines typischen Business-Aussteigers gewesen, auch das las ich. Als er zurückkam, ging der Rummel um seine vielen Geschichten und Fotos von vorne los. Sogar mir, seinem treuen Fan, wurden die sorgfältig inszenierten Erzählabende irgendwann langweilig. In den folgenden Jahren, ich war bereits nach Wien gezogen, um zu studieren, zog es meinen Vater immer wieder für längere Zeit in die Ferne – Südostasien, Marokko, Nicaragua, Costa Rica, Kuba … Immer bereitete er sich akribisch mit einem Lonely Planet auf die Reisen vor. Immer zog er dann mit dem Rucksack los. Und immer kehrte er zurück und verkündete lautstark: »Das war das letzte Mal! Ich bin zu alt für das Backpacking!« Doch im nächsten Jahr zog er wieder los. Meine Mutter ließ ihn gelassen ziehen und wiederkehren, ohne dies allzu viel zu kommentieren. Wann immer Freunde oder Bekannte sie fragten, warum sie denn nicht einmal mitfahre, winkte sie nur schulterzuckend ab. Die extreme Reise-Unlust meiner Mutter wurde in unserer Familie über die Jahre zu einem Garanten für Witzeleien. Flugzeugen misstraut sie, Bus- oder Autofahrten sind ihr zu anstrengend. Zugfahren ist zwar in Ordnung, aber dann ist da noch das In-fremden-Betten-Schlafen, das Kofferpacken, das Sachen-Daheim-Lassen, und und und … Kurz: Sie ist gern daheim und hat kein Bedürfnis, die Welt zu erkunden. Trotzdem hat sie auch mich nie zurückgehalten, wenn mich das Fernweh packte, sondern immer nur lächelnd festgestellt: »Das hat sie eindeutig von ihrem Vater.«

      Eine Lieblingsphrase meines Vaters am Telefon lautet »Lass uns mal wieder skypen«. Ich glaube, die Beherrschung dieser digitalen Kulturtechnik gibt ihm ein starkes Gefühl von Jugendlichkeit und Weltgewandtheit. Also vereinbare ich bald einen Termin für ein Skype-Telefonat mit meinen Eltern und sehe dann die ersten drei Minuten zu, wie Papa mit konzentriertem Blick das iPad so installiert, dass ich ihn und Mama richtig sehen kann. Dann beginnt er mich auszufragen, was ich in Peru bisher erlebt habe, welche Sehenswürdigkeiten im Land ich schon besucht habe, welche Orte in Lima ich schon kenne, welche typischen Speisen ich schon probiert habe. Er wirft mit Begriffen und Namen nur so um sich. Manches bejahe und kommentiere ich – dort ist es schön, das fand ich langweilig, dieses Gericht schmeckt wirklich toll –, andere Begriffe sagen mir nichts. Papa wirkt zufrieden. Ich erzähle von anderen Erlebnissen, Begegnungen mit Einheimischen und schönen, weniger bekannten Flecken des Landes, die uns empfohlen wurden. »Davon habe ich noch nie gehört«, kommentiert er daraufhin, er wirkt irritiert. Schnell bemüht er sich, das Thema zu wechseln, wieder über etwas zu sprechen, bei dem er mitreden kann. Meine Mutter hört aufmerksam zu, ihre Augen scheinen ständig über den Bildschirm zu huschen. Dann fragt sie mich mit neugierigem Blick, ob sie da im Hintergrund tatsächlich ein Regal aus Gemüsekisten in unserer Wohnung sieht. »Kracht das gar nicht zusammen?« Meine Eltern, verschieden wie Himmel und Erde. Was würden sie wohl dazu sagen, wenn ich nach Hause komme und verkünde, dass ich in Zukunft nicht mehr so weit reisen will? Sie würden es mir wohl schlichtweg nicht glauben.

      DAS VW-BUS-KLISCHEE UND WARUM ES VÖLLIG VERLOGEN IST

      Wenn du Mitte zwanzig bist und irgendwo zwischen Bobo, Yuppie und Hippie mäanderst, dann gibt es nichts Normaleres und Abgedroscheneres, als einen VW-Bus kaufen zu wollen. Außer vielleicht noch den Plan, damit unterwegs zu sein und darin wohnen zu wollen. Zahlreiche Instagrammer promoten ihr supergechilltes, alternatives Van-Life. Obwohl ich nicht einmal einen Instagram-Account habe, war ich genauso klischeehaft wie alle diese Insta-Fans. Ich wollte den Van. Tom wollte den Van. Wir träumten schon lange davon, wollten ein Bett reinbauen, mit der Kiste quer durch Südamerika fahren und jede Nacht am Strand pennen. Quasi einen Testlauf hatten wir bereits vor einigen Jahren durchgeführt, und damals, ganz am Beginn unserer Beziehung, hatte Tom mich von diesem Vorhaben überzeugt. Ich selbst habe davor nie ein Auto besessen, doch mit der Beziehung zu Tom begann auch meine erste emotionale Bindung an ein Auto. Sein alter roter VW Kombi sollte zum selbstgebauten Wohnmobil werden, beschrieb er mir noch am Abend unseres ersten Kusses. Ich glaubte ihm kein Wort, doch ich verliebte mich trotzdem schon in die Idee, auf diese Weise zu zweit durch die Welt zu düsen. Als wir erst wenige Wochen ein Paar waren, startete ich mit meiner Freundin Monika eine seit Langem geplante Rucksackreise nach Korsika. Tom versprach mir: »Wenn du auf dem Rückweg bist, ist das Auto umgebaut und ich hole dich in Venedig damit ab!« Ich war immer noch nicht sicher, ob ich ihm das glauben sollte, doch vierzehn Tage später musste ich es glauben – und ich glaubte es gerne, als ich die geniale Konstruktion von Tischlermeister Tom in Venedig mit eigenen Augen sah: Auf der weggeklappten Rückbank lag eine Holzkonstruktion, obenauf eine komplette, echte Matratze, darunter eine ausziehbare Schublade mit Fächern, die auch als Tisch unter dem Kofferraumdach diente. Ich war hin und weg. Es schlief sich ganz wunderbar in der »Villa on the road«, wie Monika unser neues Wohnmobil vor ihrer Abreise noch liebevoll taufte, und wir beschlossen, uns Richtung Triest aufzumachen. Auf dem Weg blieben wir stehen, wo auch immer es uns gefiel, campten wild im Naturschutzgebiet, entdeckten einsame Strände in verschlafenen Dörfern, genossen Pizze, Gelati e Caffè und waren – wie Frischverliebte nun mal sind – glücklich und nicht aus der Fassung zu bringen. Auch als der Kofferraum sich nicht mehr öffnen ließ und wir das Auto zum Mechaniker bringen mussten, ärgerten wir uns nicht über die Komplikationen, sondern amüsierten uns mehr über den klischeehaften Italiener inmitten seiner Fiat-Oldtimer, der uns mit einem lässigen Spruch auf den Lippen weiterhalf. Selig kehrten wir von unserem ersten gemeinsamen Urlaub zurück und planten gleich die nächste, größere Fahrt mit der »Villa on the road«. In den kommenden Monaten lernte ich in diesem Auto bei jeder Witterung, egal ob Matsch oder Glatteis, und auf jeder Bergstraße zu fahren, überall einzuparken und schlussendlich ein Auto tatsächlich gern zu haben. Im nächsten Sommer machten wir uns auf, mit dem Kombi einen ganzen Monat durch Spanien zu fahren. Und es wurde eine wirklich denkwürdige Reise. Wir wussten bereits, bevor es losging, dass es für das Auto, das schon zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte und sicher keinen TÜV mehr überstand, die Abschiedsreise werden würde. Wir konnten keine groben Mängel feststellen, also planten wir, die ganze Mittelmeerküste Frankreichs und Spaniens hinunterzudüsen. Vier Wochen absolute Freiheit, Wildcamping und Urlaubslaune! Etwa eine Woche vor der Abfahrt zeigten sich ein paar Probleme mit der Gangschaltung, doch die konnte der Mechaniker vorab noch halbwegs lösen. Mit viel Humor nahmen wir auch die Tatsache hin, dass der Beifahrer in Zukunft den Ganghebel auf der Autobahn festhalten musste, damit der fünfte Gang nicht hin und wieder unangekündigt heraussprang. Wir schafften es am ersten Tag bis an die Côte d’Azur und vergaßen gleich in der ersten Nacht, die Autolichter abzuschalten, sodass am nächsten Tag die Batterie leer war. Ein netter alter Franzose