der Feuerkugel
Was lieben die Schüler in der Schule am meisten? Genau, die wohlverdiente große Pause. So schnell, wie wir auf den Schulhof wollten, läuft noch nicht mal ein Zebra vor einem hungrigen Löwen weg.
Ich weiss noch, die Schulklingel in meiner Grundschule war so laut, dass die Lehrer immer zusammenzuckten, wenn sie schrillte. Ein Schreck fast wie in der Geisterbahn, wenn eine gruselige Gestalt plötzlich vor den Wagen springt. Wir Schüler aber hatten eine Vorahnung und rechneten jeden Moment damit. Das Herz schlug in freudiger Erwartung bis zum Hals, und im Moment des Klingelns machte es einen riesigen Sprung.
Am besten hat unsere Mathelehrerin gezuckt. Sie hätte beim „Supertalent“ sofort den „Goldenen Buzzer“ verdient für den besten weiblichen Michael-Jackson-Imitator. Für uns Schüler war es die Klingel der Freiheit. Wir zuckten nicht, sondern sprangen wie angestochen auf und verließen den Klassenraum. Nichts hielt uns zurück. Wir quetschten uns durch die Tür und trafen auf die anderen freiheitsliebenden Mitschüler. Wie ein Ameisenhaufen muss das ausgesehen haben. Total chaotisch, doch wenn man genauer hinschaute, total organisiert. Wir rannten einfach raus, ein Strom kleiner Menschen, die schnell auf den Schulhof wollten. Wie Wasser, das über die Bergkante strömt und sich ins Tal ergießt.
Unser Tal war der Schulhof, das Tal der Freiheit. Jeder kannte seinen Lieblingsplatz. Die meisten standen immer an derselben Stelle. Wehe es wäre einmal anders gekommen. Dann hätte es Ärger gegeben.
Auch ich war immer am selben Platz. Direkt hinter einem der kleinen Fußballtore aus Eisen. So hatte ich meine Ruhe und wusste, dass ich hier keinen Ball abbekam. Eisen war stark.
Leider wussten das auch die Quäler aus der vierten Klasse. Sie hatten keinen festen Platz auf dem Hof. Sie schwärmten aus, um sich Opfer zu suchen. Ich hätte mir immer einen anderen Platz suchen können, aber sie hätten mich eh gefunden, also wozu der Stress. Der Stress kam so oder so. Tag für Tag. Durch diese Quäler.
Der Grund, warum sie mich regelmäßig nervten, war einfach. Meine Pausenbrote. Denn meine Brote waren etwas ganz Besonderes. Meine Mutter bereitete sie für mich jeden Morgen liebevoll zu. Heute denke ich, zu liebevoll. Denn jedes einzelne Brot war wie ein Geschmacksfeuerwerk. Eine Komposition aus herzhaftem und süßem Belag, mit Tomaten, Gürkchen und leckerem Aufstrich, den meine Mutter selber gemacht hatte. Sie war die „Queen of Schulbrot“.
Schon das Öffnen der Brotdose war eine Sinfonie aus schönsten Gerüchen. Selbst wenn man keinen Hunger hatte, wurde man dabei hungrig. Und so verbreitete sich genau dieser geniale Geruch auf dem Schulhof und lockte die Quäler aus der Vierten an. Die Jungs fanden es entweder uncool, selbst Pausenbrote zu haben, oder die Eltern haben ihnen einfach keine gemacht. Aber sie hatten Hunger. Richtig großen Hunger sogar.
Kaum hatte ich meine Dose geöffnet, standen sie um mich herum. „Na, was haben wir denn diesmal Leckeres auf dem Brot?“, fragte der Oberraptor. Einen Lehrer anzusprechen, war für mich jetzt nicht möglich, da keiner von ihnen in der Nähe war. Die interessierten sich wahrscheinlich grad eh nicht für uns Schüler, sie saßen im Lehrerzimmer und kauten ihr eigenes Brot. Laut schreien war auch Unsinn, da auf dem Pausenhof alle so laut waren, dass das niemand hören würde. Also musste ich das Gelaber der Räuber ohne Hilfe ertragen.
Ein Brot hatte ich wie immer im Ranzen gelassen, damit ich wenigstens auf dem Nachhauseweg eins hatte. Blieben also noch drei Hälften übrig. Die waren immer schnell weg. Denn die drei Jungs, diese hungrigen Raptoren, griffen ohne mit der Wimper zu zucken in meine Dose, nahmen sich die Brote und bissen sofort hinein. So ging das nun schon über Wochen. Meiner Mutter hab ich es nicht erzählt. Ich wollte sie nicht traurig machen.
Doch mir ging das echt auf den Zeiger, und was noch viel schlimmer war, ich hatte selbst Hunger. Meine Mutter hatte sich schon gewundert, dass ich nach Hause kam und hungrig war, obwohl meine Brote aufgegessen waren. Ich hatte tatsächlich Hunger wie ein Erwachsener. Doch ich hatte ja nur eine Brothälfte von vier abbekommen. Von morgens bis mittags reichte das eben nicht. Und übrigens, die Raptoren hatten ja nicht nur meine Brote verschlungen. Es gab noch andere Opfer, und auch die sagten nichts zu Hause.
Als ich eines Tages wie jeden Tag wieder hungrig nach Hause kam, kochte meine Mutter ihre hyper-mega-leckere Gulaschsuppe in einem großen Topf. Sie und mein Vater kamen aus Ungarn, und Gulaschsuppe ist in Ungarn das Nationalgericht. Mit Gulasch kochen wächst man da auf. Meine Mutter konnte Gulaschsuppe perfekt. Viele denken, die Ungarn kochen ultrascharf. Das können sie auch, aber die Gerichte sind eher herzhaft und süßlich und jeder entscheidet selber, ob er scharf nachwürzen möchte.
Mama erklärte mir an diesem Tag, dass abends Freunde zum Essen kommen würden und sie deshalb die Suppe kochte. Für mich gab es extra Nudeln. Essen war für meine Eltern sehr wichtig. Jedenfalls saß ich in der Küche und sah, wie meine Mutter alle möglichen Gewürze ausprobierte.
Ich entdeckte auf der Arbeitsplatte ganz komische, so dunkelrote, kugelförmige Bällchen. Sie sahen fast wie Kastanien aus, ein wenig ausgetrocknet und schrumpelig. So ähnlich wie die Finger, wenn man zu lange in der Wanne gesessen hatte.
Als ich gerade eine der schrumpeligen Kugeln in die Hand nehmen wollte, machte meine Mutter einen Strecksprung quer durch die Küche und patschte auf meine Hand. „Um Gottes willen“, sagte sie, „fass diese Dinger bitte nicht an! Das ist die schärfste Paprika überhaupt, die in Ungarn verwendet wird.“
Ich riss meine Hand sofort zurück und schaute meine Mutter fragend an. Ich wollte wissen, was sie damit vorhatte. Sie erklärte mir, dass unter ihren Freunden einer sei, der gerne sehr scharf isst, und für den wollte sie die feurige Paprika in die Suppe schnippeln. Es würde keinen umbringen, meinte sie, es gäbe auch keine Folgeschäden, aber es sei eben scharf, sehr scharf. Nur, wenn man es nicht gewohnt sei, dann würde es im Mund wie Hölle brennen.
Ich dachte über die Sache nach, und als ich am nächsten Morgen wach wurde, wusste ich, dass ich meine Idee in die Tat umsetzen würde. Ich sprang in die Klamotten und lief in die Küche. Dort standen schon wie immer meine Brotbox mit den vier Brothälften und mein Orangensaft. Ich schaute mich in der Küche um. Meine Mutter war im Bad und mein Vater auf dem Klo. Ich dachte: Jetzt oder nie. Ich suchte nach den schrumpeligen scharfen Paprika. Vielleicht hatte der Freund meiner Eltern ja nicht alle weggeputzt. Tatsächlich entdeckte ich zwei im Schrank. Ich knackte die eine auf, es war eine Kirschpaprika, so heißen diese Feuerkugeln. Und dann streute ich den pulverigen Inhalt auf drei meiner Brote in der Box und versteckte das vierte im Ranzen, damit ich es auf dem Weg aus der Schule nach Hause später selbst essen konnte.
Ab ging’s in die Schule. Glaubt mir, schon lange habe ich mich nicht so sehr auf die Schule gefreut.
Wie üblich schepperte die Pausenklingel. Unsere Mathelehrerin, die auch unsere Klassenlehrerin war, zuckte wie üblich kurz zusammen, und wir sprangen alle auf und strömten Richtung Schulhof. Ich setzte mich auf meine gewohnte Stelle hinter dem kleinen Tor. Diesmal war ich echt ungeduldig und hoffte, die verfressenen Raptoren, diese Viertklässler-Quäler, würden schnell kommen.
Ich musste nicht lange warten. Wie üblich kamen sie über den Hof und suchten nach ihrer gewohnten Beute. Ich öffnete meine Brotdose und tat so, als würde ich in mein Brot beißen. Da war er schon, der Satz der Sätze: „Na, was haben wir denn heute Leckeres?“
Ich antwortete: „Ich muss euch warnen, ist diesmal echt scharf, und für jemanden, der es nicht gewohnt ist, kann es weh tun.“ Die Raptoren schauten