John C. Lennox

Joseph


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verlässt sein Zuhause und geht zu Laban

      Jakob setzte seine lange Reise fort, bis er zu einem Brunnen kam, wo er Rahel, die wunderschöne Tochter seines Onkels Laban traf. Die Begegnung ähnelte sehr der des Dieners seines Großvaters Abraham, der Rebekka als Frau für Abrahams Sohn Isaak fand. Rebekka wurde schließlich Jakobs Mutter.

      Jakob, der dies als ein Ereignis der Vorsehung angesehen haben muss, verliebte sich in Rahel und traf schnell eine Abmachung mit Laban: Er würde sieben Jahre für Laban arbeiten, um Rahel als Ehefrau zu bekommen. Doch am Morgen nach der Hochzeit fand Jakob zu seinem Erstaunen und Entsetzen heraus, dass er nicht Rahel, sondern ihre ältere Schwester, Lea, in seinem Zelt hatte. Jakob war wütend und warf Laban vor, ihn betrogen zu haben. Laban entgegnete, dass es nicht der Brauch ihres Stammes sei, die jüngere Schwester vor der älteren zu verheiraten.

      Jakobs betrügerischer Charakter hatte ihn selbst eingeholt. Jahre zuvor hatte Jakob als der jüngere Sohn vorgegeben, sein älterer Bruder Esau zu sein, um seinen Vater Isaak zu täuschen – der Jüngere war dem Älteren vorausgegangen. Doch nicht nur das, Lea besaß auch nicht Rahels Schönheit (so wird es zumindest angenommen). Jakob machte nun die schmerzvolle Erfahrung, wie es war, betrogen zu werden – im gewissen Sinne ein echter Geschmack seiner eigenen Medizin, die er seinem Vater gereicht hatte. Friedrich von Logau erfasst dies in seinem Epigramm treffend:

      Gottes Mühlen mahlen langsam,

      mahlen aber trefflich klein,

      ob aus Langmut Er sich säumet,

      In 1. Mose werden keine Einzelheiten von Jakobs Reaktion beschrieben, aber man kann sich leicht vorstellen, dass die Lektion für ihn nicht umsonst war. Hier war Gott am Werk. Gott behandelt Jakob als vollständig verantwortlich für sein Verhalten seinem Vater und Bruder gegenüber, aber nun sorgt Gott dafür, dass das Zusammenspiel der Umstände es erzwingt, dass Jakob genau die gleiche Art von Verhalten erleben muss.

      Wie komplex das ist, sehen wir daran, dass es ein lokaler Brauch war, nicht die jüngere Tochter vor der älteren zu verheiraten. Diese Tradition hatte es wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten gegeben, doch wir sind aufgefordert, die Hand Gottes dahinter zu sehen. Tatsächlich nutzt Paulus in Römer 9–11 in seinen langen Ausführungen über die Beziehung zwischen Gottes Souveränität und menschlicher Verantwortung Jakob und Esau als Beispiel für die Vielschichtigkeit von Gottes Handeln.

      Laban würde noch Lektionen über Täuschung und List lernen müssen, als er dann wiederum von Jakob überlistet wurde (und auch von Rahel), aber zu diesem Zeitpunkt gab es eine weitere bittere Lektion für Jakob. Isaak konnte wegen seiner schlechten Augen nicht zwischen Jakob und Esau unterscheiden. Vermutlich gab es genug Licht; das Problem waren Isaaks Augen. Weiterhin gab es vermutlich kein Problem mit Jakobs Augen, als er in seiner Hochzeitsnacht in das Zelt hineinging, aber er konnte nicht zwischen Lea und Rahel unterscheiden, weil es kein Licht gab. Im Dunkeln sehen die Menschen gleich aus (und unter diesen Umständen können wir auch sagen: fühlen sich gleich an); Stimmen werden nicht erwähnt, also müssen wir annehmen, dass sowohl Lea als auch Jakob in dieser Nacht nicht sprachen. Jakob musste wie sein Vater Isaak vor ihm die Gefahren erkennen, die darin liegen, auf die eigenen Sinnesorgane zu vertrauen, wenn man die Identität einer Person bestimmen will.

      Wir können hier die prinzipielle Frage stellen: Was erzählt uns diese Geschichte von Jakobs Ansichten über Frauen und die Ehe? Uns wird nur gesagt: „Rahel aber war schön von Gestalt und schön von Aussehen“ (1Mo 29,17), eine Beschreibung, die auch für Joseph im Zusammenhang mit der versuchten Verführung durch Potiphars Frau verwendet wird (1Mo 39,6). Rahels Schönheit muss solch einen Eindruck auf Jakob hinterlassen haben, dass er sofort entzückt ist, als er sie trifft.

      Die körperliche Anziehungskraft folgt dem Auge, und die Geschichte im ersten Buch Mose interessiert sich sehr für dieses Organ. Von Rahels älterer Schwester Lea heißt es nur, ihre Augen waren „matt“ (29,17). Dieser Mangel an Details lässt uns Rahels Schönheit mit Leas Augen vergleichen. Manche denken, dass Lea wirklich schwache Augen hatte und kurzsichtig war, so dass ihre Gesichtszüge dadurch schlecht aussahen; aber was ist, wenn das nicht so sehr der Fall wäre, sondern sie eher Augen hatte, die die Aufmerksamkeit auf sich selbst zogen, weil sie der Spiegel einer zarten Seele waren?

      Könnte es sein, dass hier auf den Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren einer Person hingewiesen wird, zwischen der Tiefe der Seele im Gegensatz zum oberflächlichen Glanz? Am Ende entschied sich Jakob für den Glanz. Es ist nicht so, dass der Wunsch nach Schönheit und die Empfänglichkeit dafür falsch wären, aber es ist bemerkenswert, dass der Text über die wichtige Frage schweigt, ob Rahel als Ehefrau für Jakob geeignet war.

      Der schlaue Laban sah, dass Jakobs Herz für Rahel schlug, und er nutzte diese Tatsache, um einen weiteren Handel abzuschließen, der diese Situation – und damit Jakob – ausnutzte. Die Abmachung lautete, dass Jakob direkt nach der Woche der Hochzeitsfeierlichkeiten für seine Heirat mit Lea auch Rahel heiraten könnte, aber für dieses Privileg würde er weitere sieben Jahre ohne Lohn arbeiten müssen, sozusagen als ein Diener im Haus seines Schwiegervaters. Es war eine seltsame Abmachung in einer Kultur, wo gewöhnlicherweise der Vater der Braut einen hohen Brautpreis zahlen musste, um einen guten Ehemann für seine Tochter zu bekommen. Laban nutzte Jakobs Leidenschaft für Rahel voll und ganz aus und ließ ihn für das arbeiten, was ihm normalerweise hätte geschenkt werden sollen.

      Wir wissen sehr wenig über die Beziehung zwischen den Schwestern oder über Labans Familie, obwohl jüdische Kommentatoren sehr viel darüber spekulieren, ob nicht zum Beispiel Rahel, um ihre Schwester durch eine frühere Heirat nicht zu demütigen, unmittelbar bei der Täuschung mitspielte und sogar dabei half, dass sie Erfolg hatte. Wir wissen auch nicht, welchen Anteil Lea bei der Täuschung Jakobs hatte, obwohl man sich schlecht vorstellen kann, dass sie gar keine Ahnung hatte, was los war! Wir wissen es jedoch einfach nicht, und ich komme zu dem Schluss, dass der Text sich auf die Dinge konzentriert, die wir wissen müssen, also sollten wir uns auch damit zufriedengeben.

      Jakobs Familienleben

      Bigamie war noch nie eine gute Möglichkeit, um ins Eheleben zu starten, denn sie führte unweigerlich zu Bevorzugung und heftiger Rivalität. Jakob war der Liebling seiner Mutter gewesen, und nun begann er sein Eheleben mit einer starken Voreingenommenheit in seinem Herzen gegenüber einer seiner Frauen. Diese Situation war sehr unglücklich für Lea. Stellen wir es uns nur einmal vor. Das soll schließlich die Geschichte einer Familie sein, um die Gott sich kümmert.

      Was ist nun mit Lea? Interessiert sich Gott gar nicht für sie und vor allem für die vielen, vielen Frauen, die in der gleichen Situation sind? Genetisch vielleicht mit Gesichtszügen ausgestattet, die für Männer nicht anziehend waren, war sie nun – und es war nicht ihre Schuld – verheiratet, als Ergebnis eines Vorgangs, in den sie nicht involviert war, mit einem Mann, der sie eindeutig nicht liebte, aber sich mit ihr abfinden musste, weil es ein bestimmter Brauch des ansässigen Stammes war. Als Opfer von Umständen, die sich ihrem Einfluss entzogen, war sie in einer lieblosen Ehe gefangen. Ihre Geschichte ist für viele Menschen ein Mikrokosmos des menschlichen Zustands, in dem viele sich wiederfinden: das Gefühl, dass das Leben von Anfang an ungerecht gewesen ist; der Neid auf andere, die körperlich oder geistig besser begabt sind; zu einer Familie zu gehören, in der ein Geschwisterkind demonstrativ bevorzugt wird; ein Opfer der Umstände zu sein, die zusammengenommen das Leben scheinbar mit grausamen Wendungen angefüllt haben; die Tränen wegen Ablehnung oder derber Sticheleien. Die Liste ist endlos.

      Und wer von uns ist da ausgenommen, entweder ein Opfer zu sein oder gar ein Täter? Und Gott, wenn es einen Gott gibt, ist sicherlich nur interessiert an den Starken und Schönen, die Erfolg haben, die beliebt und reich und gesund sind? Er sieht mich nicht einmal, und wenn Er mich sehen würde, wäre Er nicht an mir interessiert, oder?

      Aber Gott sah Lea trotzdem. Er sah, dass sie gehasst war, und Er unternahm etwas: „Und als der HERR sah, dass Lea gehasst war, da öffnete er ihren Mutterleib; Rahel aber war unfruchtbar“ (29,31). Dies markiert den Beginn der Familiengeschichte, in die Joseph hineingeboren werden wird. Leas erster Sohn wurde