Georges Goedert

Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling


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die durchaus realistische Darstellung von Christi Leiden und Tod, die es vermag, unser Mitleiden zu erregen und uns zugleich nachdenklich zu stimmen in Bezug auf das letzte Stück unseres eigenen Weges durch die Zeit.

      Eine festliche Atmosphäre herrschte allerdings, als Jesus einst, kurz vor seiner Passion, in Jerusalem von einer jubelnden Menschenmenge empfangen wurde. So berichten es die Evangelien. Das Volk aber, bei dieser Gelegenheit so beflissen, seine Kleider auf dem Weg auszubreiten, den Christus auf einem jungen Esel sitzend nahm, Palmenzweige zu schwenken und ihm „Hosanna dem Sohn Davids!“ zuzurufen, wird ungefähr auch dasjenige sein, das ihn bald darauf verhöhnt und ihn, aufgebracht und grausam, der Kreuzigung preisgibt, indem es von Pilatus das Leben des Verbrechers Barabbas fordert und nicht das seine. Zu den körperlichen Torturen, von denen die Passionsgeschichte berichtet, sind zweifellos bittere seelische Qualen hinzugekommen. Allerdings schweigt darüber die Schrift. Gefühle gelangen in ihr nur selten zur Sprache, aber es dürfte uns nicht schwerfallen, gerade auch diese seelische Folter zu erahnen, ja sogar nachzufühlen, die von solcher Wankelmütigkeit hervorgerufen wurde. Undank kann sehr verletzend sein. Das muss hier der Fall gewesen sein insofern, als die Tragödie der Passion auch nach rein menschlichen Gesichtspunkten auszulegen ist, nicht nur nach übernatürlichen.

      Also ein regnerischer Vormittag Anfang April, bei mir zuhause, an meinem Schreibtisch. Die Stimmung ist alles andere als freudig. Es herrscht zu dieser frühen Stunde eine Stille, deren Wirkung eher belastend ist als wohltuend. Ein paar schwarze Raben kreisen in der Luft mit ihrem widrigen Krächzen. Angenehmer dagegen klingt das unaufhörliche Gezwitscher der Amseln, die eine Art Konferenz abhalten, indem sie sich von einem Garten zum andern Rede und Gegenrede schicken. Einige Wagen fahren vorbei, fast geräuschlos. Ich nehme sie kaum wahr. Dagegen wird die Ruhe des Himmels hie und da gestört durch das brausende Eindringen eines Flugzeugs, das plötzlich den sonntäglichen Frieden mit dem Dröhnen seiner Motoren zerreißt.

      Ganz in meiner Nähe ragt der Glockenturm der dem heiligen Pius X. geweihten Pfarrkirche des Wohnviertels Belair empor, mit dem regelmäßigen Schlag seiner Uhr, die mit ihrem metallischen Klang unerbittlich den Fluss der Zeit skandiert. Wenn die Stunde des Hochamtes naht, vermag der sich so stolz erhebende Bau, dieser mit seiner prächtigen Verkleidung aus Stein und Glas versehene Wächter, ein Wahrzeichen der Stadt für den Reisenden, der sich ihr von Süden nähert, nur ein paar schüchterne und schwächliche Töne zu erzeugen, die mit einer geradezu kleinlichen Knickrigkeit von der letzten noch diensttuenden Glocke gespendet werden. In der Tat bleiben fortan die drei Schwestern verstummt, die mit ihr getauft und installiert wurden vor fast schon einem halben Jahrhundert. Die Glocke, die ich wahrnehme, ist augenblicklich die letzte, der es noch gelingt, sich zu behaupten. Sie ist nun allein gelassen – fast dauert sie mich –, sie ist die einzige, der noch erlaubt wird, sich hören zu lassen, weil der Turm wegen seiner inneren Mängel und Schäden nichts anderes mehr duldet als dieses schäbige, stammelnde, ärmliche Geläute. An diesem so wenig einladenden Vormittag im April klingt es wie eine geradewegs zu Herzen gehende Klage, die nichts mehr gemeinsam bat mit dem lebhaften Schwung von früher, an dem mindestens zwei Glocken beteiligt waren. Der Kirchturm, schlank und elegant, jedoch am Ende seiner Kräfte, wartet auf die Restaurierung, fast wie ein Kranker, der sich danach sehnt, seine Gesundheit wiederzuerlangen.

      So ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass ich in einem derartigen Ambiente dazu neige, mich ganz auf mich selbst zurückzuziehen. Innerlich betrachte ich die Bilder, die allmählich reihenweise aus den nebeligen Gründen des Gedächtnisses spontan zu meinem bewussten Denken emporsteigen.

      Sie sind in Bewegung, zeichnen sich ab, bilden sich aus, vermehren sich. Zuerst zögernd, verschwommen, unscheinbar, schwer zu ergreifen und zu fixieren, immerfort bereit, wieder in das Labyrinth des Vorbewussten unterzutauchen, werden sie allmählich kraftvoller, eindringlicher, in dem Maße, wie es mir mittels bewusst herbeigeführter Anstöße meiner Gedanken gelingt, sie zu vereinen und für sie einen Platz zu finden in der immer kohärenter werdenden geistigen Vernetzung. Palmsonntag – was gibt es da nicht alles an Erinnerungen, die auftauchen, sich überstürzen, wieder verschwinden, sich durchdringen und verknüpfen, sich gegenseitig ergänzen? Fetzen, Fragmente streiten sich um den Brennpunkt des Bewusstseins, steigern sich plötzlich und verlieren dann schnell an Kraft. Die allmählich sich ausweitende Reflexion schält den inneren Kern heraus. Sie wird mehrfach getragen durch emotionale Zustände, die teils schläfrig sind und verschwommen, teils aber lebhaft, ja sogar schmerzlich, wenn sie sich beherrschen lassen von der Sehnsucht nach dem Vergangenen, die sich mit den heraufbeschworenen Bildern vorübergehend einstellt.

      II. Bilder von einst

      Erinnerungen an Palmsonntage, ja, da gibt es bei mir deren viele, auch weithinaus über den Aufenthalt von 1991 in Dubrovnik. Alle sind sie geprägt von der so charakteristischen Atmosphäre dieses Tages, da in der Kirche die Liturgie bestimmt ist von Trauer und Hoffnung. Ergreifend erinnert sie an die Überwindung der Finsternis. Sie weist hin auf den Glauben an das Licht, an das Leben, der stärker sein soll als alle Bedrängnis. Die Nacht vergeht, wenn der Tag erscheint. Verirrung droht nicht mehr, da der Morgen langsam dämmert und die Dunkelheit vom Wege des aus dem Reich des Schattens kommenden Pilgers weicht, wenn sich vor dessen staunendem Auge bleiche Streifen am Horizont bilden im aufgehenden Licht der sich nahenden Sonne.

      Bilder von einst – sie entstammen einer längst vergangenen Zeit. Ich denke an meine Kindheit im Bahnhofsviertel meiner Heimatstadt Luxemburg, an den Palmsonntag in der Pfarrkirche Herz Jesu, sowohl im Krieg noch als auch in der Nachkriegszeit. Ich kann mich gut in die Atmosphäre von damals zurückversetzen. So öffne ich denn gedanklich die Pforte, die in das Land meiner Erinnerungen führt und für die ich allein den Schlüssel besitze. Jeder Mensch hat seine eigene Pforte zwecks Zulassung zur Vergangenheit.

      Besser kann seine Individualität sich wohl kaum unter Beweis stellen als durch seine Erinnerungen. Er allein ist es, der in der Welt gelebt hat, zu der sie Eingang verleihen. Für jeden von uns tragen die eigenen Erinnerungen in ihren Verknüpfungen das unverwechselbare Kolorit individueller Perspektiven, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Begierden – dank den ihnen zugrundeliegenden Umständen, die sich im Laufe seines Lebens eingestellt haben. Das verleiht ihnen einen streng persönlichen Charakter. Dabei gibt es sogar die Möglichkeit, sich an Erinnerungen zu erinnern. Das vertieft noch deren Einzigartigkeit.

      Jedes menschliche Leben hat seine eigene Geschichte, die nie identisch sein kann von einem Menschen zum anderen. Es gibt also keine zwei Schlüssel für ein einziges Portal, die absolut dieselben wären, denn jeder ist einmalig und wird nur von demjenigen Menschen verwendet, dem er gehört: Er ist nicht übertragbar auf andere. So kann er auch nicht einem Erben hinterlassen werden. Bis in die kleinste Einzelheit hinein gilt die Singularität, was sowohl auf gedankliche, wie auf emotionale und biologische Fakten zurückzuführen ist. Kommunikation ist eigentlich nur dadurch möglich, dass ähnliche Bewusstseinsinhalte beim Mitmenschen bestehen oder geweckt werden. Von all diesen einzelnen Schlüsseln verliert jeder beim Tod seines Besitzers seine Funktion: Das Schloss, auf das er passt, kann nicht mehr geöffnet werden, jedenfalls nicht in einer diesseitigen Optik.

      Erinnerung: Einst nahm ich als Ministrant teil an dem Hochamt mit Palmsegnung, der für uns Katholiken den Einzug in die Karwoche bedeutet. Zusammen mit zahlreichen Kameraden wurde ich beordert, die kleinen Dienste in der Liturgie zu verrichten. An ernsthafter Beflissenheit fehlte es uns nicht, denn wir fanden, das alles gehöre zur Feierlichkeit des Tages. Ich kann mich noch bestens an unsere kardinalroten Tuniken erinnern. Sie waren verschönert durch ein weißes, mit Spitze bordiertes Chorhemd und an Hals und Schultern bedeckt mit einem breiten, aus demselben roten Stoff geschnittenen Kragen. Wir trugen kein Käppchen. Überhaupt kamen unsere Herren Geistlichen nicht auf die Idee – ich möchte sagen: glücklicherweise –, uns wie kleine, werdende Domherren zu kostümieren. Wir fühlten uns sogar ein wenig stolz auf unser Kleid.

      Es war stets eine eindrucksvolle Zeremonie, eine weihevolle Stunde. Beim Hochamt am Palmsonntag war für uns Jungen das markanteste Ereignis weniger die Segnung der Buchszweige als der Vortrag der Matthäus-Passion, natürlich in lateinischer Sprache. Es war ja noch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Drei Zelebranten nahmen daran teil, unterstützt durch die Einlagen des Chores, der sich auf der Empore befand. Man sprach von dem