Georges Goedert

Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling


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der Schönheit noch der Feierlichkeit. Sie zu kürzen, kam überhaupt nicht infrage. Das hätte man damals als ein Sakrileg empfunden. Man begann mit dem Anfang des Kapitels 26, an der Stelle, wo der Text uns berichtet, wie Jesus seinen Jüngern verkündigt: „Ihr wisst, dass in zwei Tagen das Paschafest ist; da wird der Menschensohn ausgeliefert und gekreuzigt werden.“ Die Leidensgeschichte nimmt dann ihren Lauf: Die Obersten der Priester und die Ältesten des Volkes versammeln sich im Palast des Hohepriesters Kaiphas und schmieden ihr Komplott.

      Muss man nicht bedauern, dass inzwischen das Passionsevangelium gekürzt wurde? Die Zeiten haben sich natürlich geändert. Es fehlt uns heute stets an Zeit. Selten trifft man noch einen Menschen an, der, seinen Verpflichtungen nachgehend und überhaupt seinen Beschäftigungen, sich nicht darüber beklagen würde, er habe nie Zeit. Wir knausern mit der Zeit wie Harpagon, Molières Geizhals, mit seiner Kassette. Wir fürchten, sie zu verlieren oder sie aufzuwenden, ohne dafür einen passenden Gegenwert zu erhalten. So hat man sich denn genötigt gefühlt, den Text des für die Messe am Palmsonntag bestimmten Matthäusevangeliums stark zu kürzen. Er wird auch nur noch wenig gesungen: Man hält sich an Lektoren. Heißt das, dass es im Klerus an fähigen Sängern mangelt? Das mag natürlich sein, doch vor allem geht es mit der einfachen Lektüre viel schneller. Von den Leuten wird heutzutage überall Geschwindigkeit verlangt. Sie wird bevorzugt selbst in Situationen, die sich naturgemäß mit einer gewissen Langsamkeit entwickeln müssten. Auch könnten sie der Seele wenigstens hie und da die Möglichkeit bieten, sich von den Strapazen zu erholen, an denen das Leben in unserer modernen Gesellschaft ja so überreich ist. Richtig rezipieren, heißt das nicht, Vorstellungen in aller Ruhe auf sich wirken zu lassen?

      Man möge sich vorstellen, dass in den Kirchen Leipzigs zur Zeit Johann-Sebastian Bachs die Karfreitagsvesper, die jeweils auch die Aufführung einer Passion enthielt, schon um Viertel nach eins begann. Es kam vor, dass sie einen ganzen Nachmittag einnahm. Natürlich denken wir hierbei ganz speziell an die Matthäus-Passion, dieses großartige Werk, das immer wieder erneut zutiefst bewegend ist, besonders natürlich in der Passionszeit. In seinem Genre ist es zweifellos das berühmteste. Seine erste Aufführung fand am Karfreitag des Jahres 1729 statt. Es ist aus zwei Teilen zusammengesetzt, die anfangs dazu dienten, die Predigt zu umrahmen.

      Unsere heutige Einstellung zum Leben wird beherrscht von einer sich als immer rationeller erweisenden Organisation unseres Tagesablaufs, die sich eingeschlichen hat bis hinein in unsere Freizeitgestaltung. Der Stress wächst in dem Maße, wie sich immer mehr aus der Zeit Geld schlagen lässt. Es zeigt sich eine Tendenz zu einer allgemeinen Kommerzialisierung. So erleben wir eine Tyrannei der Zeit, die Drangsal der in Rechnung gestellten Minuten, als ob das Kalkül, die pure Quantifizierung, auch nur im geringsten die Güte und Schönheit derjenigen Augenblicke ersetzen könnte, die dank ihrer Qualität die Dimension unseres Intellekts übersteigen und uns an die Grenzen des Unsagbaren führen. Die mechanische Zeit ist tatsächlich zu einer unerbittlichen „peau de chagrin“ geworden (einem harten Chagrinleder, wie der Franzose Balzac es nannte): je mehr wir sie nutzen wollen, desto knapper wird sie. Deswegen unser Eindruck, an Geschwindigkeit noch zu verlieren, anstatt zu gewinnen.

      Das erinnert mich an den Spruch, den ich in Metz entdeckt und schon so oft gelesen habe, und zwar auf dem Platz vor der Kirche Notre-Dame de Metz, deren Berühmtheit daher rührt, dass in ihr 1844 der Dichter Paul Verlaine die Taufe empfangen hatte. Viele kennen diesen schmucken kleinen, vom Sonnenlicht überfluteten Platz – rechts, wenn man die alte Rue de la Tête d’or hinuntergeht – mit fast südlichem Charakter. Einige erst vor kurzem gepflanzte Lindenbäume sorgen für Verschönerung. Wenn sie einige Jahre gewachsen sind, werden sie im Sommer erholsamen Schatten spenden und die Nächte mit ihrem wunderbaren Duft erfüllen. Der Platz wird überragt von der breiten Barockfassade der Kirche mit ihrem mirabellgelben Anstrich. Schräg gegenüber steht ein sichtlich neugestaltetes altes Haus mit Eingang an der vorderen Seite, die am Rande des Platzes liegt und einen rechten Winkel bildet mit der Rue de la Chèvre. Auf einer Mauerfläche, unter einer hübschen Sonnenuhr, kann man dort in einem etwas holperigen Französisch folgende Inschrift lesen: Passant, prends le temps, sinon il te prend – „Passant, nimm dir die Zeit, sonst nimmt sie dich.“

      III. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

      Ich kehre auch heute immer noch gerne zurück in die Kirche des Luxemburger Bahnhofsviertels, da ich mich dort so heimisch fühle. Da steh ich dann vor dem Hauptaltar und dem Chor, dessen Wände und Fenster sich durch ihre Gradlinigkeit auszeichnen. Keine Rundungen, keine Bögen, was der ganzen architektonischen Ausführung eine gewisse Strenge verleiht. Dunkelgelber Marmor, nuanciert durch unregelmäßige tiefbraune Streifen, die senkrecht verlaufen, verkleidet den Chor bis zu einer bestimmten Höhe. So kann ich die riesige Freske von Otto Linnemann betrachten, die ein monumentales Herz-Jesu-Bild enthält. Dieser Christus ist majestätisch, er thront auf einem hellblauen Sitz, der mit prunkvollen, gelbgrünen Chrysoliten besetzt ist. Aber die Blicke der Gläubigen – der Besucher – richten sich besonders auf das große, leuchtend rote Herz, das sich im Zentrum des gesamten Werkes befindet. Um die Strahlung auszudrücken, die ausgeht von diesem glühenden Herzen, dem Symbol einer unendlichen, ewigen Liebe, hat der Künstler ausnahmsweise Gold verwendet. Dieses Gold glänzt in der Beleuchtung des Chores, ob elektrisch angestrahlt, ob im hellen Tageslicht, das durch das farbige Mosaik der hohen Seitenfenster eindringt.

      Cuius regni non erit finis – „dessen Reich kein Ende nehmen wird“: Dieser Versteil des Credo der Kirche breitet sich mit ockergelben Buchstaben in Majuskelschrift auf dem schwarzen Balken aus, der die Decke von der Freske trennt. Hier erscheint, ganz verhalten allerdings, die Idee der Gerechtigkeit, zumindest in den Augen desjenigen Besuchers, der daran denkt, dass der entsprechende Vers folgendermaßen beginnt: Et iterum venturus est cum gloria; iudicare vivos et mortuos – „Und er wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten.“ Es handelt sich zweifellos um das Thema des Jüngsten Gerichtes, des unwiderruflichen Urteils.

      Urteile jedoch enthalten unweigerlich Belohnungen oder Strafen. So und nicht anders will es die menschliche Justiz. Anderenfalls hätte sie keinen Sinn. Aber die göttliche Gerechtigkeit? Diejenige Christi am Ende der Geschichte, beim Jüngsten Gericht? Rationales Denken verlangt, dass belohnt oder bestraft werde. Sollte die menschliche Rationalität – schließlich ist sie auch nur eine Art des Denkens unter mehreren – aber nicht überwunden werden durch die unendliche Barmherzigkeit, von der gerade das Herz Jesu Zeugnis ablegt?

      Widersprechen sich diese beiden Konzeptionen der Gerechtigkeit? Ja, wenn es der menschlichen nicht gelingt, sich zu der göttlichen hin zu erheben. Die göttliche Weisheit ist mit Geheimnissen erfüllt, sie geht unendlich weit über die unsere hinaus. Von Luther berichtet man, dass er entsetzt war über das Bild eines Richter-Gottes. Er habe das eines barmherzigen Gottes vorgezogen. Letztlich sind es nicht unsere Vorlieben, die zu entscheiden haben, doch wir können uns vorstellen, dass dank der Liebe Gottes der anthropomorphe Schein unserer Auffassung der Gerechtigkeit untergeht. Der gläubige Mensch sagt dann – wie Georges Bernanos am Ende seines von einem Landpfarrer geschriebenen Tagebuches (Journal d’un curé de campagne) –, dass „alles Gnade ist“. Alles, ohne Ausnahme. Wie sollte man noch annehmen, dass, im Angesicht der Ewigkeit, und wäre es auch nur in einem einzigen Fall, das Letzte, was über ein Menschenleben ausgesprochen würde, sei es auch noch so abstoßend und verächtlich gewesen, Worte der Verdammung sein könnten?

      Ist Christus nicht der Erlöser? Ja, die göttliche Liebe und ihr Verzeihen müssten das letzte Wort haben. Barmherzig sein, das heißt, ein Herz haben für Leidende, für diejenigen, die sich in Not und Elend befinden. „Mitleid“ ist nicht das passende Wort, denn mit seinem Gebrauch läuft man Gefahr, denjenigen, auf den es sich bezieht, zu erniedrigen. In der christlichen Sprache wird es deshalb auch wenig gebraucht. Man kann noch einen Schritt weiter tun und behaupten, das Mitleid sei überhaupt kein christlicher Begriff, selbst wenn der Ausdruck noch hie und da in Texten der Kirche – zu Unrecht, wie mir scheint – auftaucht.

      Also sagen wir „Barmherzigkeit“, was nahe an „Herzlichkeit“ herankommt und viel weniger Gefahr läuft, beleidigend zu wirken. Wer leidet, im Elend ist, sogar in einem Abgrund –Abgründe gibt es leider so viele und von verschiedenster Art