Georges Goedert

Angst und Freude in sonnigem Vorfrühling


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will es die christliche Botschaft. Wir sollten nicht vergessen, dass sie jeden Menschen als ein Ebenbild Gottes ansieht. Zu diesem Thema kann man die Lektüre der Genesis empfehlen und ebenso einzelner Briefe des heiligen Paulus. Es handelt sich also um eine jüdisch-christliche These. Sie ist absolut grundlegend in unserer geistlichen und moralischen Tradition. Deshalb dürfte ein Christ nicht von einem Mitleid Gottes mit den Menschen sprechen. Die Menschen verdienen Respekt noch bis hinein in die tiefste Verkommenheit, sei sie moralisch oder physisch. Dies werten die Menschenrechte übrigens genauso. Die menschliche Würde ist in jedem von uns prinzipiell unveräußerlich und unzerstörbar. Es gibt sie in jedem menschlichen Wesen, wie es auch immer sein mag. Der Liberalismus hat sicher dazu beigetragen, diese Idee zu propagieren, doch ist er nicht deren Urheber. Auch er zehrt von der geistigen Substanz des Christentums.

      Der luxemburgische Christus von Linnemann erinnert sehr an die orientalische christliche Kunst. Man denkt im Besonderen an den Pantokrator, der in vielen orthodoxen Kirchen und auf zahllosen Ikonen dargestellt wird. Der orthodoxe Glaube hat bekanntlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die europäischen Länder ausgeübt. So gibt es beispielsweise in der Krypta des Benediktinerklosters vom Marienberg im Südtiroler Vinschgau unter den Fresken aus dem 12. Jahrhundert ebenfalls einen als Pantokrator thronenden Christus.

      Otto Linnemanns Werk lässt uns den Weg der Erlösung ahnen, der zu guter Letzt abhängig ist von der Liebe Gottes. In der gesamten Haltung Christi äußert sich die göttliche Allmacht. Der Hintergrund dieser Fresken, die Kulisse aus drei Reihen von Engeln, ist geprägt von einer mathematischen Strenge, die sich auch in der quasi absoluten Symmetrie manifestiert. Wir sprechen von einem geometrischen Hieratismus. Metaphorisch weist er hin auf eine universale und ewige Ordnung. Alle natürlichen Gesetze der Schöpfung, sowohl die physischen als auch die moralischen, enthalten ein Moment des Zwangs. Die Liebe dagegen ist vor allem ein Geschenk. Sie besteht aus einer freien Energie, die sich weder in Zahlen noch in Formen ausdrücken lässt. Man kann dafür keine Maßeinheit benutzen, kein Dyn und kein Erg. Ihr Wesen erlaubt es nicht, an ihr Messungen und Kalküle vorzunehmen.

      Heutzutage allerdings, unter dem Einfluss eines entfesselten Kapitalismus und einer sich stark verbreitenden Globalisierung der liberalen Wirtschaft, bemächtigt sich das Rechnen immer mehr unseres Lebens. Es wird dann schwer, zu verstehen, dass es eine Kraft gibt, die davon gänzlich frei ist und sich jedwedem Kalkül entzieht. Ohne die Liebe aber wäre menschliches Leben nicht denkbar. Weder gäbe es Zeugung, noch könnten Menschen gedeihen ohne Liebe zu erfahren und Liebe zu schenken.

      Liebe und Gerechtigkeit: zwei fundamentale Werte. Welche der beiden soll letztlich dominieren? Die Liebe, wird man sagen, denn sie stellt die universale Kraft dar, ohne die das Leben erlöschen müsste. Andererseits wissen wir aber auch, dass das Leben in der Gesellschaft nicht ohne Gerechtigkeit auskommt. So sollte im Rechtsstaat der Gesetzgeber unter den ihm gegebenen Umständen so gut wie möglich eine auf den Menschenrechten basierende Gerechtigkeit erfassen. Die Gesetzgebung sollte eine Aktualisierung dieser Gerechtigkeit sein. Insofern dies nicht der Fall ist, laufen wir Gefahr, uns in ein Chaos zu stürzen, in dem nur das Gesetz des Stärkeren herrscht.

      Die Botschaft des Künstlers ist vielsagend, was diese beiden Werte – Liebe und Gerechtigkeit – betrifft. Unverkennbar ist die Haltung seiner Christusgestalt diejenige eines Königs, der zu Gericht sitzt. Seine linke Hand hält einen Stab, der an seinem Ende ein Kreuz bildet. Dieser erinnert an eine Fahnenstange, an den Stab eines Abtes oder eines Bischofs, ja sogar an das Szepter eines Monarchen, was uns an Macht und Gerechtigkeit denken lässt. Seine rechte Hand dagegen erhebt sich zum Segnen. Segnen heißt beschützen, und jedwede schützende Geste ist mit der Liebe zumindest verwandt. Man darf folglich behaupten, dass diese Christusfigur einlädt zum Leben, zum Gedeihen, zum Heil, zur Seligkeit –, aber auch indem sie hinweist auf die Notwendigkeit, das Gesetz zu achten und sich ihm zu unterwerfen.

      Noch andere Erinnerungen aber tauchen in mir auf, plötzlich stärker als die vorherigen. Sie beziehen sich auf den Palmsonntag, den ich 1991 in Dubrovnik verbracht habe. Bilder, zuerst fragmentarisch und zusammenhanglos, dann immer deutlicher werdend, erfüllen allmählich mein Inneres. Sie erheben sich aus dem kontinuierlich sich verändernden Fluss des Bewusstseins. Unwillkürlich steigt Sehnsucht in mir auf.

      IV. Die Last der Geschichte

      Es war am 24. März 1991. Das Datum spricht Bände. Dunkle Wolken zogen damals auf am politischen Horizont Kroatiens – der Republik Kroatien, die einen wesentlichen Teil des damaligen Jugoslawiens bildete. Man befand sich im Vorfeld kriegerischer Auseinandersetzungen, ohne dass dieser Zustand aber für den Besucher deutlich zutage getreten wäre. Gerne würde ich den französischen Ausdruck „veillée d’armes“ gebrauchen, wenn er mir nicht für die damalige Situation unpassend erscheinen würde. Er erinnert an ein hohes mittelalterliches Ideal – an die Nachtwache, die früher im Gebet verbracht wurde von den Anwärtern, die am folgenden Tag zu Rittern geschlagen wurden.

      Jugoslawien hatte einen Siedepunkt erreicht, ähnlich einem Dampfkessel, der Gefahr läuft, jederzeit auseinanderzubersten. Kundgebungen, gewaltige, bedrohliche, hatten gerade die Stadt Belgrad erschüttert. Die Lage war konfus – man verstand sie kaum, obschon bereits seit Tagen die internationale Presse regelmäßig darüber berichtete. Sie machte den Eindruck eines unentwirrbaren Imbroglios, eines schrecklichen gordischen Knotens, ohne dass man am Horizont einen vom Beistand der Göttin Fortuna begünstigten Alexander hätte kommen sehen, der fähig gewesen wäre, ihn zu durchschlagen. Das Erbe Titos ging offensichtlich verloren – seine Auflösung begann. Hatte nun die Stunde geschlagen, da man sich auf bewaffnete Konflikte einstellen musste? Diese wichtige Frage beschäftigte viele Menschen, auch die Beobachter im Ausland.

      Heute nun, da die offenen Feindseligkeiten längst ein Ende gefunden haben, allerdings ohne dass die Spuren davon verschwunden wären, ist es möglich, diese Märztage 1991 zu analysieren und besser zu verstehen. Sie waren in der Tat das Präludium zu den kriegerischen Handlungen, die bald das Land blutig heimsuchen sollten, die Teilrepubliken, die Provinzen, eine nach der anderen. Die Kundgebungen in Belgrad, der sowohl serbischen als auch föderalen Hauptstadt, brachten tiefe innere Uneinigkeiten an den Tag, die nicht allein auf die Republik Serbien begrenzt waren, sondern mittels eines Schneeballeffektes sich über die ganze jugoslawische Föderation erstreckten. Auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet lebten Rivalitäten wieder auf, beseelt von Hass und Groll nationalistischen Charakters, die sich in der geschichtlichen Entwicklung über Jahrhunderte angestaut hatten.

      Bürgerkriege? Bruderkämpfe? Ich zögere. Diese Begriffe sind nämlich nicht absolut passend. Zwar muss man eingestehen, dass es sich um Feindschaften handelte, die als einander entgegengesetzte Kräfte innerhalb ein und desselben Staates in Erscheinung traten, doch entstammen diese Bezeichnungen zu sehr einer bloß politisch-allgemeinen Sichtweise. Sie benennen Streitigkeiten innerhalb eines Staates, nicht zwischen Staaten. Sie sind abstrakt und sagen nichts aus über die einzelnen Völkerschaften, ihre Geschichte und ihre Zielsetzungen. Außerdem müssen wir fragen, ob man tatsächlich berechtigt ist, von einem jugoslawischen Volk zu sprechen, einem einzigen, wohlverstanden? Gab es damals unter den Einwohnern dieses Landes wenigstens die Andeutung eines Gefühls von nationaler jugoslawischer Identität und Selbständigkeit? Da antworten wir natürlich mit einem klaren Nein. Einige gemeinsame politische Institutionen genügen nicht, um die Bevölkerung eines Staates zu einem Volk werden zu lassen, viel weniger noch zu einer Nation. Die Einführung einer kommunistischen Republik 1945 mit der mächtigen Figur des Marschalls Tito an ihrer Spitze, begleitet von der Abschaffung der Monarchie der Karadjordjević, hat ebenfalls keine bemerkenswerte und tiefere Veränderung hervorgebracht was diese Spaltungen mit ihren vielfältigen Aspekten betraf, die das Resultat waren von so häufigem Zerfall und Auseinandergehen. Sie sind ein beständiges politisches Risiko geblieben, eine Art Zeitbombe, ein Damoklesschwert für dieses Stück europäischer Erde, das schon so manches Martyrium erlitten hatte, für den Balkan, für Europa, ja sogar für die ganze Welt.

      Die Konstruktion dieses Staates war nie genügend gefestigt, auch nicht unter der autoritären Herrschaft von Titos Sozialismus. Selbst wenn es um die politische Strukturierung ging, war es mit der Einigkeit schlecht bestellt. Diese gab es kaum, obgleich unter Tito eine Reihe von Änderungen der Verfassung vorgenommen