Helga Dreher

Das Torhaus


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ging, wie angewiesen, über die Terrasse ins Haus. Unter großen Sonnenschirmen saßen einige Senioren in Rollstühlen. Alma erschrak über ihre unbewegten Mienen und die Art, wie sie kopfschüttelnd oder den Oberkörper hin und her wiegend dasaßen und sie beim Vorbeigehen offenbar nicht wahrnahmen.

      Sie hielt die angegebene Richtung ein und klopfte an eine Tür mit dem Schild „Heimleitung. Frau H. Klein“.

      ❧

      Als Alma nach einer Stunde das Haus wieder über die Terrasse verließ, saßen die zwei Damen noch immer auf ihrer Bank, allerdings hatte sich jetzt ein hagerer Herr mit weißer Mähne und einer rollbaren Gehhilfe zu ihnen gesellt, der dröhnend redete und mit einer Hand lebhaft gestikulierte, während die andere den Rollator festhielt. Beide Frauen lachten laut, winkten lebhaft in Almas Richtung und wandten sich wieder ihrem Gesprächspartner zu.

      Frau Klein, eine Frau um die Fünfzig von kräftigrundlicher Gestalt und bestimmtem Auftreten, hatte sie zunächst sehr freundlich empfangen, wurde aber zunehmend reservierter, als deutlich wurde, dass es bei Almas Besuch nicht um die potenzielle Unterbringung von Oma oder Opa im Heim Am Lottenbach ging. Als sich Alma nach Ewald Arnheim erkundigte, verschloss sich Frau Kleins Miene umgehend.

      „Es tut mir leid, aber Auskunft über unsere Senioren geben wir grundsätzlich nicht.“

      „Aber Herr Arnheim ist doch schon verstorben!“ Alma fühlte sich von Frau Klein brüskiert. „Und er war mein Onkel – mein Großonkel, genau genommen. Und in diesem Fall …“

      Frau Klein stutzte, unterbrach sie mit einer Handbewegung und wies auf einen bequemen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Bitte setzen Sie sich einen Moment. Wie war Ihr Name? Winter? Alma Winter?“

      Sie trat zu einem Regal an der Seitenwand ihres Büros, orientierte sich kurz und zog einen grauschwarzen Ordner heraus. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch, schlug den Ordner auf und blätterte darin, bis sie die gesuchte Stelle gefunden hatte.

      „Alma Winter. Hier haben wir Ihren Namen.“ Sie schaute auf. „Das ist natürlich etwas anderes. Ich sehe, Sie sind tatsächlich berechtigt, Auskunft über Ewald Arnheim einzuholen, denn Sie sind hier – sie fuhr mit dem Zeigefinger die Seite hinunter – als eine der Ansprechpersonen im Fall seines Ablebens benannt.“ Sie blätterte weiter und schaute Alma wieder strenger an. „Wir haben auch versucht, Sie zu benachrichtigen. Allerdings kam die Post zurück, zweimal.“ Sie vergewisserte sich und las laut, „einmal mit Adresse Neustadt, ein zweiter Versuch mit Adresse Göttingen. Kein Erfolg, beide Male.“ Frau Kleins Stimme klang jetzt fast anklagend. „Man verschwindet doch hier in Deutschland nicht spurlos vom Erdboden!“

      „Hier in Deutschland sicher nicht, Frau Klein. Aber ich habe mehrere Jahre in Großbritannien gelebt und gearbeitet. Dort muss man sich nicht polizeilich melden. Übrigens, man hat als Brite noch nicht einmal einen Personalausweis – es sei denn, man will ins Ausland, dann beantragt man einen Pass.“

      „Zustände sind das“, Kopfschütteln auf der anderen Seite des Schreibtisches, „aber“ – jetzt in verbindlicherem Ton – „da können Sie nun wirklich nichts dafür. Wenn Sie mir allerdings kurz Ihren Ausweis zeigen würden?“

      Im weiteren Verlauf des Gespräches erfuhr Alma, dass Onkel Ewald insgesamt dreieinhalb Jahre im Heim gewesen war. Seine Frau sei kurz vor der Wende gestorben, und er habe noch bis 2000 allein gelebt, hier in Weimar, das sähe sie aus der Akte. Warum er zu ihnen gekommen war, hätte allen zunächst Rätsel aufgegeben, denn er erschien recht fit, selbstständig und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.

      „Ich war damals noch die Stellvertreterin und hatte mehr Dienst am Menschen. Also Ihr Onkel …“, sie schaute verlegen zur Decke und suchte nach Worten, „Ihr Onkel hat unser Haus – hm – kräftig belebt.“

      „Und wie sah das im Einzelnen aus?“

      Ihr Gegenüber erzählte. „Er war unermüdlich. Die Terrasse wurde umgestaltet, der Speiseraum umgeräumt, Stofftischdecken mussten her – was ja nur berechtigt war, wenn Sie mich fragen, man kann doch erwachsene Menschen nicht wie Kleinkinder behandeln …“

      Nach kurzem Nachdenken fielen Frau Klein weitere Beispiele ein. „Busfahrten wurden organisiert, außer der Reihe, wenn irgendwo etwas Interessantes stattfand. Musiker kamen her, also musste ein Keyboard angeschafft werden. Geld war gerade keines dafür da, doch es wurde trotzdem geliefert, von Herrn Arnheim privat bezahlt und dem Heim geschenkt. Als es da war, wussten wir auch warum: Unser Herr Arnheim setzte sich daran, spielte Lieder und sang Texte dazu, also die waren …“

      „Die waren leicht frivol, oder? Jetzt erinnere ich mich wieder an Familienfeste bei Oma und Opa. Ich war noch ziemlich klein, wurde von Onkel Ewald aufs Klavier gesetzt und durfte den Refrain mitsingen. Die Verwandten lachten lauthals über mich, vermutlich wusste ich gar nicht, was ich da singe.“

      „Das war aber alles noch schön und anregend. Ihr Onkel hat uns in anderer Hinsicht einige Probleme gemacht. Er war …“, Frau Klein unterbrach sich wieder und suchte nach Worten, sodass Alma erneut einsprang.

      „Ich vermute, er war der Schwarm aller Frauen.“

      „So muss man es sagen. Und glauben Sie mir, das kann in einer Einrichtung wie dieser zum Problem werden. Wurde es auch, und schnell obendrein. Schon kurz nach seinem Einzug bekamen sich mehrere der Damen in die Haare – nicht wortwörtlich, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber Freundschaften gingen zeitweise auseinander, man fuhr sich an oder schnitt sich – es war schwierig und dauerte fast ein halbes Jahr. Dann entschied sich Herr Arnheim wohl für eine der Damen als, nun ja, kontinuierliche Gesprächspartnerin. Von da an wurde es ruhiger und alle haben eigentlich von der Anwesenheit Ihres Onkels profitiert. Es herrschte ein fröhlicher Ton, alle wollten irgendwie dabei sein, wenn etwas organisiert wurde, und viele wollten sich auch an den Vorbereitungen beteiligen.“

      Frau Klein schob den Ordner ein wenig von sich weg und lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück. „Ich will Ihnen jetzt auch sagen, warum ich auf Ihre Frage nach Ewald Arnheim etwas, nun, unfreundlich reagiert habe und dann auch Ihren Ausweis sehen wollte. Während Ihr Onkel hier war, hatte er ja kaum Besuch. Kinder waren nicht da, die Ehefrau vor ihm verstorben, da ist es eben manchmal so. Allerdings – zwei- oder dreimal kamen dann doch Besucher. Es waren immer ältere Herren, und immer andere, soweit ich mich erinnere. Sie kamen zu zweit oder zu dritt, und beim ersten Mal bestanden sie sogar darauf, zu Herrn Arnheim ins Zimmer zu gehen. Eine unserer Mitarbeiterinnen hat sie auch hingeführt, was eigentlich unüblich ist, denn man weiß ja nicht, ob es unseren Senioren in dem Moment so passt …“ Frau Klein schien weiter in ihrer Erinnerung zu suchen.

      „Jedenfalls waren sie sehr ungehalten, als sie wieder gingen, man konnte es an ihren versteinerten Mienen sehen. Wochen später, und dann Monate später kamen noch einmal solche Besucher, andere, wie gesagt, aber ebenfalls ältere Semester. Mit denen hat Ihr Onkel offensichtlich gar nicht mehr sprechen wollen, denn beim letzten Mal haben sie einen Mitbewohner gefragt, ob er, Herr Arnheim, noch so ganz richtig wäre. Solche Fragen liebt hier natürlich niemand und die Männer wurden wohl ziemlich verladen. Danach war Ruhe, und Herr Arnheim erkrankte dann ja auch plötzlich schwer, die Lunge. Er kam noch in die Klinik, aber es ging alles ganz schnell.“

      „Ich würde gern zu seinem Grab gehen. Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich es finde?“

      Frau Klein nickte. „Ich kann Ihnen sagen, wo Sie Blumen niederlegen können. Da gibt es im südlichen Teil des Friedhofs eine Wiese unter alten Laubbäumen, dort werden Urnenbestattungen durchgeführt, wenn keine Angehörigen mehr vorhanden sind oder die Verstorbenen es so wünschten. Ihr Onkel Ewald hatte das schon zu Lebzeiten alles mit der Friedhofsverwaltung vereinbart und, wenn ich mich recht erinnere, sogar im Voraus bezahlt.“

      Beide schwiegen für einen Moment.

      Dann fragte Alma: „Die, wie Sie sagten, bevorzugte Gesprächspartnerin, lebt sie noch im Heim?“

      „Ja, das tut sie.“

      „Glauben Sie, ich könnte sie sprechen?“

      Frau Klein zögerte