Helga Dreher

Das Torhaus


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Komm dann auf dem Rückweg vorbei, dann kriegst du dein Essen.“

      Alma machte eine Handbewegung zur Stirn wie zum Salutieren, sagte ‚Yes, Ma’am‘, zahlte ihren Kaffee und ging in die Richtung, die ihr Holger gezeigt hatte: An der Schule vorbei, über die Ampel, dann immer geradeaus zur Schillerstraße, dort wäre ein Buchladen, wo sie mit Sicherheit einen Stadtplan bekäme.

      ❧

      Den Zugang zum Park an der Ilm hatte Alma dann doch nur mit Mühe gefunden. Als sie vom Hotel Elephant über den großen Platz zur Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek gehen wollte, um von dort in den Park zu gelangen, war alles wegen Bauarbeiten weiträumig gesperrt. An einem der unteren Ausgänge des Marktplatzes hatte sie dann die kurze Straße zum Schloss gefunden, mit dem berühmten Café Resi an der Ecke – jetzt Residenzcafé genannt – das sie noch von früheren Besuchen kannte. Von dort sah sie schon die alten Bäume des Parks und grüne Rasenflächen. Ein älteres Ehepaar mit Hund kam ihr entgegen, einem aufmerksamen Tier mit glattem graubraunem Fell, und sie hatte gefragt, welches Bauvorhaben dort oben auf dem Platz gerade im Gange wäre. Ein unterirdisches Bücherlager werde das, hatten ihr beide umständlich erzählt, und da drüben – ausgestreckte Arme wiesen nach rechts – würde noch mal eine Bibliothek gebaut. Irgendwie sollte dann alles zur Anna-Amalia-Bibliothek gehören. So ganz genau wüssten sie es aber auch nicht, sie wären ja nicht die großen Leser, und wenn, dann gingen sie eher in die Stadtbücherei. Das da wäre mehr für Leute, die auf Goethe forschten, oder Schiller.

      Alma hatte sich bedankt und war um das Schloss herum und über eine schöne Steinbrücke hinunter zur Ilm gelaufen. Sie sah eine breite Allee und mehrere Abzweigungen und erinnerte sich, dass irgendwo in der Nähe Goethes Gartenhaus stehen musste. Minuten später tat sich vor ihr eine weite offene Parklandschaft auf, mit dem berühmten Postkartenblick zum Gartenhaus. Sie setzte sich auf eine der Bänke im Halbschatten und nahm das Merianheft über Weimar aus ihrem Rucksack, das sie zusammen mit dem Stadtplan im Buchladen gekauft hatte. Der hellbraune Hund von vorhin, sein Artgenosse jedenfalls, schaute mit melancholischen Augen aus dem Titelbild, im Hintergrund war, undeutlich, das Gartenhaus zu sehen. Sie blätterte durch, sah die Bilder an – die Kirche in Gelmeroda, die Feininger gemalt hatte, renovierte Altstadtgassen, Bilder aus Goethes Wohnhaus, das Dichterdenkmal von hinten, mit bronzenem Eichenstamm, den sonst niemand wahrnahm, eine alternative Galerie und, ah, ein wunderschönes Foto vom Park, eine Ruine im Nebel, dunkelgrün bewachsen, erinnernd an die Vergänglichkeit, dachte sie, auch des Klassischen.

      Alma legte das Heft neben sich auf die Bank, schloss die Augen und spürte die Frühlingssonne auf ihrem Gesicht, angenehm warm, aber noch nicht heiß und stechend. Ein schöner und ruhiger Ort, der Ilmpark. Sie erinnerte sich vage, dass ihn Goethe anlegen ließ oder seine Gestaltung zumindest beeinflusste. Noch heute erkannte man seine Idee, eine Art englische Parklandschaft zu schaffen.

      Sie öffnete die Augen und schaute mitleidig auf den Rasen, der zwar gemäht und an den Kanten einigermaßen begradigt war, aber im direkten Vergleich mit den dichten und gleichmäßigen lawns in englischen Parkanlagen hätte es dieser hier wohl schwer. Dafür gab es in Weimar sicher weniger Regen, auch gut.

      Ihr fiel Sieglinde ein, die heute Vormittag wahrscheinlich entlassen worden war. Hoffentlich hatte Horst Zeit, sie aus der Klinik abzuholen. Vielleicht sind sie schön essen gegangen, oder er hat etwas gekocht, sicher auch Sieglindes Lieblingskuchen zum Kaffee gekauft.

      Alma fühlte, dass sie wieder traurig werden wollte, sich bedauern, sich allein fühlen. Sie zwang sich, an etwas Gutes für sich zu denken. Die Stadt war schön. Sie würde in den kommenden Monaten durch die Straßen bummeln, in das eine oder andere Museum gehen, vielleicht einige der Gebäude von innen sehen, das Schloss oder die Bibliothek hinter der Baustelle, falls sie geöffnet hatte. Zur Feiningerkirche konnte man sicher mit dem Bus fahren. Und was ihr wichtig war, ein Kaffeehaus gab es an fast jeder Ecke.

      First things first, Alma, dachte sie. Du brauchst erst einmal eine Wohnung hier, für den Übergang, bis dein Torhaus bewohnbar ist. Wie lange würde das dauern? Einige Monate? Ein Jahr? Hoffentlich nicht. Das Haus war klein, das musste doch schnell zu machen sein.

      Ja, aber es ist ein Denkmal, fiel ihr ein. Da agieren höhere Mächte vor den Handwerkern, die berüchtigten Bürokraten zum Beispiel, die, wie man las, Bauanträge ignorierten oder gar sabotierten, im besten Fall liegen ließen. Vielleicht ist es hier anders. Außerdem ist das Haus eine Schande im Stadtbild, da wäre Beeilung doch angesagt.

      Vor dem Umzug aus Berlin hatte sie keine Furcht; Umzugsfirmen gab es wie Sand am Meer, in Berlin oder hier in Weimar. Sie hatte vorhin an der Ampel einen großen LKW mit der Aufschrift „Huck Finn“ auf der Plane vorbeifahren sehen, das fand sie witzig. Für ihre Habseligkeiten würde ein Transporter ausreichen, ungeliebte Möbelstücke müssten nicht erst nach Weimar, Studenten könnten sie vorher für sich abholen.

      Was war mit den Sachen ihrer Mutter? Sollte sie zum Lagerhaus in Neustadt fahren, wo sie seit Jahren nicht mehr war? Dann müsste sie auch zum Grab ihrer Mutter, und davor fürchtete sie sich. Sie war nach der Beerdigung nur noch einmal dort gewesen, und es war furchtbar. Obwohl zerrissen von Selbstvorwürfen, war sie trotzdem nicht wieder in ihre Heimatstadt gefahren. Sie hatte ihre Diplomarbeit zu schreiben und Prüfungen abzulegen. Danach war sie für vier Jahre nach Cornwall gezogen. Die Friedhofsverwaltung pflegte das kleine Grab gegen halbjährliche Rechnung, Menzels wollten sich ebenfalls kümmern.

      Alma fühlte, wie sich in ihrer Brust etwas zusammenkrampfte. Inzwischen waren Wolken aufgezogen und hatten die Sonne verdeckt. Der Park wirkte dunkler, das Grün des Rasens stumpf. Sie packte das Weimarheft zurück in den Rucksack, stand auf und ging zurück über die Steinbrücke am Schloss in die Innenstadt.

      KAPITEL 12

      „Alma Winter? Schön, dass Sie da sind, bitte treten Sie ein. Ich bin Grete Rottloff. Haben Sie uns gleich gefunden? Mit Stadtplan, aha. Sie trinken doch mit uns Kaffee? Ich habe russischen Zupfkuchen gebacken, den essen wir selbst gern, und mit einem Gast lohnt sich doch das Kuchenbacken erst richtig.“

      Eine Frau, die die Siebzig überschritten haben mochte, stand in der geöffneten Haustür von Nummer 46 und begrüßte sie mit einem leichten Dialekt – rollendes „r“ und dunkle Vokale – den Alma nicht zuordnen konnte. Sie war groß und sehr schlank, hatte kurz geschnittenes graues Haar und trug über einem langen Jerseyrock einen feinen und recht tief ausgeschnittenen Pullover, beides Ton in Ton in Violett. Das ist eine wirkliche Dame, dachte sie, und was für eine aparte Erscheinung.

      Auch das Haus war nicht einfach ein Haus, sondern eine weiße Villa, die inmitten von Büschen und Stauden etwas zurückgesetzt von der Straße hinter einem tiefschwarzen schmiedeeisernen Zaun stand. Der kleine kiesbestreute Hof links neben dem Haus wurde von einer Platane mit ausladenden Ästen beschattet, um deren Stamm eine runde Holzbank gebaut war, vor vielen Jahren wohl schon, so verwittert sahen die Bretter aus.

      Sie betrat das Haus hinter Frau Rottloff. Nach einem kleinen Windfang öffnete sich eine Flügeltür in einen eleganten Flur mit getäfelten Wänden und einem Fußboden aus Mosaiksteinen. Im Flur standen zwei Korbsessel mit dicken hellgelben Kissen, die einen alten runden Eisentisch mit Glasplatte in ihre Mitte nahmen. Das Licht schien von oben zu kommen, und als Alma aufblickte, sah sie, dass der Flur die gesamte Höhe des Hauses einnahm und in einem Oberlicht aus weißen und grünen Glasscheiben endete, die ein Jugendstilmotiv bildeten. Eine Treppe führte seitlich zur ersten Etage des Hauses und mündete in eine Galerie, von der vermutlich die Zimmer des Obergeschosses abgingen.

      „Da ist ja unser Gast! Herzlich willkommen, Frau Winter. Meine Frau Grete haben Sie schon kennengelernt, und sie ist …“, er schaute sich um, „für einen Moment in die Küche verschwunden.“

      Ein alter Herr stand Alma in einer breiten Türöffnung gegenüber und streckte ihr die Hand zur Begrüßung entgegen. Er war sehr groß und stand in leicht gebeugter Haltung vor ihr, so als habe er sein Leben lang auf Menschen hinunterschauen müssen und das nur ungern getan. Er trug eine dunkle Hose mit scharfer Bügelfalte über glänzenden Lederschuhen und eine dunkelblaue Strickjacke über tadellos gebügeltem weißem Hemd. Eine rote Fliege mit dunkelblauen Punkten ergänzte das Ganze und verlieh Dr. Rottloff Senior