Helga Dreher

Das Torhaus


Скачать книгу

      Benjamin Lenk nickte.

      „Jetzt ist zwar die kleine Denkmalplakette angebracht, aber offensichtlich will schon lange keiner mehr daran denken müssen – sonst hätte es die Stadt nicht an meinen Onkel verkauft. Wenn ich es jetzt in Besitz nehme“, Alma verzog etwas verlegen das Gesicht ob ihrer Wortwahl, „also, wenn ich es sanieren lasse und dann darin wohne, bekommt es wieder ein schönes Äußeres, an dem sich die Leute erfreuen können, und eine liebevolle Bewohnerin obendrein. Was kann man sich als Torhaus in Weimar Besseres wünschen?“

      Anwalt Lenk lachte und meinte, dies wäre ein löbliches Beispiel von gesellschaftlich verantwortlichem Denken und Handeln, und – nun ja, sie habe völlig recht.

      Alma lachte befreit mit und fügte hinzu, wenn er eben einen Anflug von Nutzdenken in ihrer kleinen Ansprache gehört haben wollte, so habe er sich nicht verhört. Aber entscheidend sei doch immer das Ergebnis. Sie freute sich, dass der Anwalt nicht mehr ganz so reserviert wie zu Beginn des Gesprächs war und sie beide fast locker miteinander umgingen. Nun gut, locker war wohl Dr. Lenks Sache nicht. Sie hatte sich aber doch nicht getäuscht: Er hatte gelacht.

      „Und was haben Sie jetzt als Nächstes vor, Frau Winter? Sie haben uns noch gar nicht eingeweiht, was Sie eigentlich beruflich genau tun.“

      „Nichts Aufregendes. Ich habe Anglistik und Germanistik studiert und eine zusätzliche Ausbildung als Übersetzerin abgeschlossen. Das ist es auch, womit ich bisher ausschließlich meinen Lebensunterhalt verdient habe.“

      „Und man kann davon leben?“

      „Das kann man schon. Vielleicht nicht so komfortabel wie ein Rechtsanwalt, aber bei guter Auftragslage nicht schlecht. Natürlich bin ich, wie die meisten Übersetzer, selbstständig und arbeite auf Honorarbasis. Aber wie gesagt, man kann davon leben.“ Alma hätte gern weiter über ihre Arbeit erzählt, hielt aber inne, als Benjamin Lenk auf seine Armbanduhr sah.

      „Für heute hätten wir alles Notwendige besprochen.“ Er legte die Papiere zurück in die Mappe, nicht ohne die vorherige Ordnung wiederherzustellen.

      Ein Pedant, dachte Alma und sagte sich gleichzeitig, dass sie das nun wirklich nicht interessieren musste. Sie bedankte sich, dann verbleibe man bis zum nächsten Anruf der Kanzlei, sie sei noch bis mindestens Montag im Hotel Liszt und ihre Handynummer wäre ja bekannt. Das Vorzimmer war leer und Alma ging schnell hinaus auf die Straße.

      Als sich die Haustür hinter ihr schloss, fiel ihr ein, was sie vergessen hatte – woran sie während der letzten Tage aber mehrmals gedacht hatte: Onkel Ewald. Irgendwo in Weimar musste er doch bis vor Kurzem noch gewohnt haben. War er allein gewesen? Krank? Woran war er gestorben? Wo war er begraben? Ihr fiel der alte Dr. Rottloff ein, der sich vielleicht an seinen Klienten erinnerte. Aber erinnerten sich Rechtsanwälte an einzelne Fälle oder Vorgänge, bei der Masse von Papieren, die über ihre Schreibtische ging? Schwer zu sagen, aber einen Versuch war es wert. Gleich morgen Vormittag würde sie noch einmal in der Kanzlei anrufen.

      Die Nachmittagssonne stand schon tief und die Häuser auf der Südseite der Straße warfen breite Schatten, als Alma zurück zum Hotel ging. Auf der linken Straßenseite erschien die Kirche, ein Bau im Renaissancestil mit zwei unterschiedlichen Türmen, einer davon mit runder Kuppel – ein wenig wie St. Paul’s en miniature.

      KAPITEL 10

      Das Kirchenportal hatte weit offen gestanden – vielleicht, um etwas von der Wärme des ausklingenden Frühlingstages einzulassen? Alma war sich sicher, dass sie an einer geschlossenen Tür vorbeigegangen wäre. So aber war sie zögernd eingetreten.

      Niemand außer ihr schien in der Kirche zu sein. Sie nahm ihren Rucksack ab und setzte sich in eine der Bänke. Nach der wohligen, wenn auch staubigen Wärme der Straße fröstelte sie und legte sich ihre Strickjacke um die Schultern. Sie saß eine Weile still und hörte auf die entfernten Laute von draußen, Autos, die vorbeifuhren, dann ein Bus, dem lauteren, dunkleren Motorengeräusch nach zu urteilen. Von Passanten, die an der offenen Tür vorbeigingen, waren Wortfetzen zu hören, dazwischen Rufe von Kindern, dann Hundegebell.

      Kirchen waren für sie Teil einer Stadt, ihrer Architektur, ihrer Geschichte. Sie erinnerte sich an die Kathedrale von Canterbury, die plötzlich riesig zwischen Fachwerkhäusern im mittelalterlichen Straßengewirr der englischen Stadt aufragte. An einem kalten Wintertag war dort Erzbischof Thomas Becket in seinem eigenen Dom ermordet worden. Obwohl vor vielen Jahrhunderten geschehen, erweckten die Erzähler in ihren Führungen durch den Dom den Eindruck einer Unmittelbarkeit der Tat, die es den Touristen aufregendgruselig den Rücken unter den Rucksäcken hinunterlaufen ließ. Ähnlich fühlten wohl die mittelalterlichen Pilger, die, von Chaucer erdacht und zu Papier gebracht, zu Beckets Grabmal von London nach Canterbury wanderten und sich unterwegs Geschichten erzählten von Liebe und Verrat, Habsucht und Tod – die Canterbury Tales.

      Die letzte Wohnung ihrer Mutter in Neustadt hatte sich gegenüber der Stadtkirche St. Johannis befunden, im dritten Stock eines großen Stadthauses mit Blick auf das Portal, die hohen gotischen Fenster und den markanten Turm.

      Alma selbst war noch im Neubaugebiet im Süden der Stadt aufgewachsen, aber nach der Wende und Almas Studienbeginn in Göttingen mochte ihre Mutter nicht mehr im Block wohnen. Eine „Stadtwohnung“ suche sie, hatte sie damals verkündet und bald darauf auch gefunden. Ein Investor hatte sich eines der verkommenen Häuser an der Hauptstraße angenommen und es ordentlich saniert. Bald standen die Möbel ihrer Mutter in einem großen Erkerzimmer mit Blick auf die Kirche. Zur Wohnung gehörten außerdem ein zweites Zimmer, ein Bad mit Fenster und eine große Wohnküche. Von der Küche aus betrat man einen Balkon, der an die Rückseite des Hauses neu angebaut worden war. Hier wuchsen Kräuter in Töpfen, und dichte Grünpflanzen vermittelten im Sommer mediterrane Illusion. An warmen Abenden saß Alma mit ihrer Mutter manchmal draußen, bequem auf Korbstühlen an einem alten Holztisch. Sie hatten gemeinsam etwas gekocht, Gerichte ausprobiert, die ihre Mutter in Frauenzeitschriften gefunden hatte. Dazu gab es Rotwein und danach einen Espresso. Irgendwann stand eine dieser teuren italienischen Maschinen in der Küche und Mama hatte sie mit dem Hebel gekonnt bedient.

      Überhaupt besaß ihre Mutter in regelmäßigen Abständen neue Dinge – einen Ring mit einem kleinen Brillanten; einen Kaschmirpullover, bei dem niemand auf die Idee kam, er sei aus dem Kaufhaus; Tassen und Teller mit dem Aufdruck „Wedgwood“ auf der Unterseite; einen Mantel mit Designerlabel im Innenfutter – alles Dinge, die Alma nur schwer mit dem Gehalt ihrer Mutter als Schulsekretärin in Einklang bringen konnte.

      Alma nahm sich anfangs vor, beim nächsten Besuch entschiedener nach der Quelle der schönen neuen Dinge zu fragen, aber es gab dann doch immer so viel anderes zu erzählen, vor allem über Almas Studium, das Studentenleben in Göttingen, Michael und ihre Mitbewohnerinnen in der WG. Dann begann ihre Mutter von der Arbeit zu erzählen und beide lachten oft so laut, dass es durch den Hinterhof schallte. Die Weingläser wurden aufgefüllt und das Leben war schön.

      Alma lächelte in sich hinein, wenn sie an Mamas „Berichte aus dem Schulalltag“ dachte. Ihre Mutter war Sekretärin in der Schule, die auch Alma bis zur zehnten Klasse besucht hatte. Dort galt Frau Winter bei Schülern und Lehrern gleichermaßen als gefürchtete Person. Wenn sie auf ihren hochhackigen Schuhen durch die Schule ging – oder besser schritt – wurden Rangeleien zwischen Jungen unterbrochen, verfielen rennende Kinder zurück in gemäßigten Schritt, wurde herumliegendes Papier aufgehoben, wurden Klassentüren leiser geschlossen, wurde deutlich sichtbar gegrüßt.

      Kamen Schüler zu ihr ins Sekretariat, dann galten gewisse Regeln: Mütze ab, grüßen, das Anliegen klar und deutlich vorbringen und sich bedanken, wenn Anlass gegeben war – zum Beispiel auch für eine Auskunft. Ermahnungen der Sekretärin waren genauso ernst zu nehmen wie die der Lehrer, oder besser ernster, denn Frau Winter vergaß seltener etwas, erinnerte sich an Namen, kannte die meisten Mütter und traf sie oft beim Einkaufen. Wer all das, oder das meiste davon, berücksichtigte, konnte zu ihr kommen und wurde freundlich behandelt.

      Frau Winters Verbände, Verpflasterungen und Tröstungen bei den kleinen Unfällen, die im Schulalltag beinahe jeden Tag passierten, waren legendär. Jeder Verunfallte musste sich auf die Krankenliege