Helga Dreher

Das Torhaus


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schüttelte ungläubig den Kopf und rief dann: „War das bei dir auch so, erste Stunde nach den großen Ferien, gleich nach dem Appell in die Klasse und dann die Frage aller Fragen, welchen Platz im Klassenzimmer man sich für das kommende Schuljahr sichern konnte – aber da war Moni die Schnellere, fällt mir ein, sie schaffte es so gut wie immer, als Erste durch die Tür zu rennen und ihren Ranzen auf die vorher ausgesuchte Bank zu werfen. Nicht zu weit vorn, aber auch nicht ganz hinten, dafür war sie zu klein, sie hätte nicht den Überblick gehabt, und den hatte sie immer …“

      „Das kannst du wissen! Hallo, ihr zwei, ich denke, ihr liegt krank im Bett? Stattdessen seid ihr auf und kickert euch was?“

      In der Zimmertür stand Moni und schüttelte scheinbar empört den Kopf.

      ❧

      Alma reichte Moni die Hand, nachdem diese sich aus Sieglindes heftiger Umarmung gelöst hatte, und staunte. Bisher hatte sie die Herrin des Busbahnhofskiosks immer in einer Art Berufskleidung gesehen, helle Bluse und dunkler Rock. Jetzt stand sie in einem leichten Sommerkleid vor ihnen, schwarz mit kleinen weißen Streublumen. Das Kleid war vorn zu knöpfen und Moni hatte darauf verzichtet, die zwei oder drei oberen Knöpfe zu schließen. Ein Stück weißer Spitze schaute heraus, die wohl zu einem BH gehörte, darüber blinkte eine Kette mit roten und weißen Glasperlen. Ein roter Gürtel umschloss die nicht eben schlanke Taille, passend zu den feuerroten Haarsträhnen – mutig, dachte Alma. Monis Füße steckten in Sandalen mit atemberaubenden Absätzen und standen neben einem offensichtlich gut gefüllten Weidenkorb, dessen Inhalt von einem weißen Tuch verdeckt wurde.

      „Also, hier kommt ein lieber Gruß von Holger, und ihr sollt ganz schnell gesund werden! Räumen Sie doch mal die Krankenschüsseln weg, Frau Winter, wir haben jetzt Besseres.“ Das Tuch wurde abgenommen, zur Tischdecke entfaltet und aufgelegt. Moni holte Servietten, kleine Teller und passende weiße Porzellanbecher aus dem Korb und deckte den Tisch. Die Blumen von gestern wurden platziert, Bestecke aufgelegt und eine Thermoskanne dazugestellt. Als Letztes erschienen eine Auflaufform mit Glasdeckel und Weißbrot in einer Stoffserviette auf dem Tisch.

      Alma trug die Kliniktabletts nach draußen und schob sie in den Transportbehälter. Mit ihrem gesunden Arm ergriff sie einen der an der Wand stehenden Stühle und trug ihn ins Zimmer.

      „Danke, Frau Winter. Dann wollen wir mal“, sagte Moni und öffnete den Schraubverschluss der Thermoskanne.

      Alma schaute Sieglinde bittend an. Die verstand und unterbrach die Geschäftigkeit ihrer Freundin. „Moni, wir zwei haben das ‚Sie‘ gestern Abend schon aufgegeben. Also: Moni, das ist Alma. Alma, das ist Moni. Natürlich kannst du ‚Monika‘ sagen, aber du wärst dann die Einzige in Weimar. Und das“, Sieglinde schaute misstrauisch auf die Thermoskanne, „sollen wir mit Tee begießen?“

      „Mädchen“, Moni schüttelte mit gespielter Verzweiflung den Kopf, „hast du jemals mit mir angestoßen und Tee war drin?“ Sie schaute zur Tür und flüsterte verschwörerisch: „Ich musste vorsorgen, soll ja alles nach gesundheitsförderndem Mitbringsel aussehen. Übrigens konnte ich Holger gerade noch davon abhalten, euch einen großen Topf Hühnerbrühe zu kochen. Das muss man eigentlich zur Rekonvaleszenz – hab ich das jetzt richtig – also zur Erholung trinken, meinte er.“

      Sie nahm den Deckel von der Auflaufform. „Also, was haben wir – das ist Holgers Terrine ‚Huhn im Garten‘, oder Kock oh Schardeng, wie er’s nennt, fein geschnittenes Geflügelfleisch mit Gemüse und kleinen chinesischen Pilzen in Aspik, dazu Vinaigrette mit buntem Pfeffer, ist in dem Fläschchen. Unterwegs hab ich noch frisches Ciabatta geholt. Und in der Thermoskanne ist nun mitnichten Tee, meine liebe Sieglinde, aber rot ist es auch. Ihr seid doch nicht mehr unter Drogen, oder? Nein? Ein Glück, ich hätte ja sonst die ganze Kanne allein …“ Moni lachte laut auf, schaute erschrocken zur Tür und konzentrierte sich wieder auf die kleine Tafel. „Ich habe Becher mitgebracht, wirkt unverdächtig. Übrigens hätten die alten Römer ihren Wein nie aus Gläsern getrunken, meinte Holger, und das waren ja nun die absoluten Genießer. Merlot aus dem Veneto, hat er extra für euch ausgesucht.“

      Sie goss die Becher halb voll und legte den Schraubverschluss zurück auf die Kanne. „Zum Wohl, Mädels, auf eure Gesundheit!“

      Inzwischen war die Sonne untergegangen und im Zimmer breitete sich angenehmes Dämmerlicht aus. „Eigentlich schön“, seufzte Moni, „hier zu sitzen und morgen nicht ins Hamsterrad zu müssen …“

      „Aber dir macht es doch eigentlich Spaß, mit Holger zusammenzuarbeiten. Der Kiosk ist euer zweites Zuhause und eure Kunden machen keinen Stress, oder?“ Sieglinde schaute die Freundin besorgt an.

      „Natürlich, macht es auch. Man hat nur manchmal das Gefühl, dass sich irgendwie alles im Kreis dreht, jeden Morgen zum Busbahnhof, abends nach Hause, Essen, Wäsche, die Kinder – Sveni macht mir grad ein paar Sorgen – und man wird alt und merkt es nicht mal.“ Moni legte das Gesicht zwischen ihre Hände und stützte die Arme auf.

      „Mensch, Mädchen, so kenn ich dich ja gar nicht. Pass auf, wenn ich wieder gesund und zu Hause bin, bereden wir alles ganz in Ruhe. Mir geht es manchmal ähnlich, wenn dich das trösten kann, und in letzter Zeit habe ich ein paar Strategien gegen die scheinbare – scheinbare sage ich – Tristesse des Alltags entwickelt. Aber jetzt“, Sieglinde schaute bedeutsam zu Alma, „gibt es Wichtigeres zu besprechen!“

      Sieglinde begann Almas Geschichte zu erzählen, wobei Alma die eine oder andere Ergänzung beitragen durfte, und Moni hörte gespannt zu. Ab und zu schüttelte sie ungläubig den Kopf oder machte mitfühlende Geräusche, unterbrach aber nicht.

      „Das Torhaus“, sagte sie schließlich gedehnt, „wer hätte das gedacht? Verdient hat es die alte Hütte ja, dass sich endlich jemand kümmert …“ Dann richtete sie sich auf, verschränkte die Arme, drückte den Rücken durch und sah Alma an. „Da haben wir jetzt ganz schön was vor uns.“

      „So ist es, Moni, und für den heutigen Abend war das Erstellen eines ersten groben Aktionsplans vorgesehen – nicht wahr, Alma?“

      Alma nickte erschrocken und fragte dann: „Seid ihr fertig? Ich räume schon mal das Geschirr zusammen. Viele Grüße an Holger, und es hat wunderbar geschmeckt.“ Sie legte alles vorsichtig zurück in den Korb und stellte ihn hinter ihr Bett unter das Fenster. Die Becher und die Kanne ließ sie auf dem Tisch stehen. Moni goss zügig nach.

      Sieglinde stand auf und holte ihr Notizbuch aus der Schublade. „Lasst uns einfach mal ein Brainstorming machen: Welche Schritte müssen wir – muss Alma, meine ich – unternehmen, um die Renovierung in Gang zu bringen?“

      „Einen Profi finden, Denkmalpfleger oder so etwas.“

      „Einen Architekten beauftragen.“

      „Mit dem Denkmalamt Verbindung aufnehmen.“

      „Und vielleicht auch mit der Baubehörde – oder wie heißt das heute in der Stadtverwaltung?“

      „Handwerker finden. Welche, die so etwas Ähnliches schon mal gemacht haben. Etwas Historisches, meine ich.“

      „Selbst etwas herausfinden über das Torhaus. Man möchte doch nicht völlig ignorant dastehen, oder? In der Stadtbücherei?“

      „Oder in der am Platz der Demokratie, der Anna Amalia?“

      „Woher kennst du die denn?“

      „Na also, ganz doof bin ich auch nicht, hab schließlich Berufsausbildung mit Abi.“

      „Ja, als Elektronikfacharbeiter. Da bist du natürlich bestens vorbereitet.“

      „Aber du bist es, als Ökonomin mit Karriere im Blumenbindewesen!“

      „Halt“, unterbrach Alma die beiden, „das nennt ihr Brainstorming? Hier gibt es gleich einen bösen Streit, und ich bin schuld!“

      Moni und Sieglinde schauten einander an und begannen lauthals zu lachen. „Alma, wir meinen das nicht so. Wir können nicht anders – und sind seit über dreißig Jahren die besten Freundinnen. Oder gerade deshalb, wer weiß?“

      „Jedenfalls“,