Helga Dreher

Das Torhaus


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tiefen Hinterhof, der von drei Seiten von Häuserwänden umgeben und auf der vierten Seite offen zum nächsten Hinterhof war. Der Mann von der Immobilienfirma, die die Wohnung vermittelte, hatte ihr diese Lage als eher vorteilhaft erklärt: ruhig, in Westlage, also Abendsonne, und definitiv günstiger im Preis als die Wohnungen an der Vorderfront des Hauses.

      Alma war eingezogen, hatte sich mithilfe des schwedischen Möbelhauses einigermaßen eingerichtet – oder einzurichten begonnen. Nach wenigen Wochen war ihre Aktion Schöner Wohnen nach und nach im Sand verlaufen. Nachdem sie einen Tisch mit zwei Stühlen, einen Sessel, eine Schreibplatte und vier Füße dazu, ein Bett, einen Kleiderschrank und ein Bücherregal geliefert und zusammengebaut bekommen hatte – die angepriesene Methode des Kaufens und gleich Mitnehmens konnte sie in Ermangelung eines eigenen Autos nicht wahrnehmen – und ihre begrenzten Habseligkeiten verstaut waren, fühlte sie sich zu weiteren Kaufexpeditionen nicht mehr in der Lage. Sie schämte sich ein wenig, wenn sie daran dachte, dass sie in keinem der Zimmer eine Deckenleuchte und nirgends ein Bild aufgehängt hatte. Sie besaß keine Bohrmaschine, konnte auch nicht mit einer solchen umgehen, keine Leiter, kein Werkzeug.

      Auch Kiezleben und Nachbarschaftsgefühl hatte Alma zumindest für sich selbst nicht entdeckt. Die Mitbewohner im Haus sah sie allenfalls im Fahrstuhl, und dort schaute man sich ja möglichst nicht an, sondern sah diskret weg oder scheinbar gespannt auf die Anzeige der Stockwerke. Sie war im Spätsommer eingezogen, da hatte es ab und zu Hofpartys oder Straßenfeten gegeben. Zu Ersteren mochte sie ohne Einladung nicht gehen, und bei den Straßenfesten musste man ja immer mit Betrunkenen oder Schlägereien rechnen. So war sie beiden lieber ferngeblieben. Sie hatte sich in einem Fitness-Studio angemeldet, das sie auch regelmäßig besuchte, doch dort war jeder sehr mit sich selbst und seinem Körper beschäftigt. Ins Kino war sie allerdings mehrmals in der Woche gegangen, manchmal in den riesigen Kinokomplex in der Schönhauser, meistens aber in das kleine Studiokino an der Prenzlauer Promenade. Die dort gezeigten Filme ließen sie aber nicht selten traurig und deprimiert nach Hause laufen und manchmal lange nicht zur Ruhe kommen.

      Zur Besichtigung der Landschaft hatte sie einmal eine der an vielen Stellen angepriesenen Schiffstouren auf Spree und Havel unternommen und frustriert auf die mit Wochenendhäusern, Bootsstegen und sogar kleinen Yachthäfen bestückten Ufer geschaut. Von wegen Natur pur – Besitzstand pur, fand sie und hatte daraufhin zu einem Ausflug aufs Land keine Lust mehr verspürt. Ohnehin war auch ihr Vorhaben, sich umgehend ein Fahrrad anzuschaffen und dieses täglich zu benutzen, irgendwie gescheitert, woran, wusste sie nicht mehr so recht. Fahrräder und die sie handelnden Läden gab es jedenfalls genügend in Berlin.

      Ihre Suche nach Arbeit war erfolgreicher verlaufen. Bereits nach wenigen Wochen hatte sie bei einem größeren Übersetzungsbüro einen Honorarvertrag erhalten, dem auch regelmäßig kleinere oder mittlere Aufträge folgten, im Wesentlichen Texte für Werbebroschüren, Informationsblätter oder Firmenjournale international arbeitender Konzerne aus dem Englischen ins Deutsche. Obwohl in diesen Tagen fast jeder Mitarbeiter in multinationalen Unternehmen angab, Englisch zu verstehen und zu sprechen, hatte sich wohl herausgestellt, dass für Kunden oder für die Öffentlichkeit bestimmte Texte sehr gewannen, wenn sie auch im Deutschen noch konzise und zudem angenehm lesbar waren. Mit ihrem Hochschulabschluss in Anglistik und Germanistik und ihrem Englandaufenthalt befand man sie nach Lieferung einiger Textproben für fähig und geeignet.

      Alma war mit diesem Arrangement als Möglichkeit, ihr tägliches Brot zu verdienen, zufrieden, aber nicht glücklich. In England hatte sie Katherines Romane ins Deutsche übersetzen dürfen und dabei eine wunderschöne Zeit verlebt. Aber vorbei, alles war anders jetzt, Berlin statt Cornwall, Hinterhof anstelle des Cottages am Meer.

      KAPITEL 7

      „Guten Abend, meine Damen.“ Die Tür hatte sich für eine kleine Gruppe weiß bemäntelter Menschen geöffnet. Ah, Visite. Sieglinde Roth war das erste Ziel und Alma drehte sich diskret weg, als der Arzt mit ihr sprach.

      Nur wenige Minuten später wandte sich Dr. Behringer – seine Begleiter trugen außer freundlichen Mienen nichts zur Visite bei – an Alma. Er fragte nach dem Befinden, war mit ihrem Kurzbericht zufrieden, ein leichter Kopfschmerz wäre nur normal, ob sie noch Schmerzmittel brauche, vielleicht in der Nacht, sie möge sich nur an die Schwester wenden, auch spät, dafür sei die Nachtschwester da. Wenn sie es schaffe, diese Nacht noch in ihrer Halsstütze zu liegen, wäre das gut, morgen sähe man weiter. Der Bruch brauche seine Zeit, Geduld sei da angebracht. Und wie schon gesagt, in ein paar Tagen könne man sich vielleicht schon wieder voneinander verabschieden, einen erfolgreichen Heilungsprozess vorausgesetzt.

      Freundliches Lächeln und Kopfnicken zu beiden Patientinnen, und die Tür hatte sich schon wieder hinter wehenden Kittelschößen geschlossen.

      „Das ging aber flott“, sagte Alma und schaute beeindruckt zu Sieglinde Roth. „Muss es wohl“, meinte ihre Nachbarin, „man liest doch immer wieder, welchen Stress die Klinikärzte haben. Aber ehrlich, als abgefertigt empfinde ich mich als Patientin trotzdem nicht. Im Gegenteil, ich vermute, wenn es wirklich ernst ist, bekommt man hier auch volle Aufmerksamkeit.“ Alma nickte zustimmend, was sollte sie als Neuling dazu auch sagen.

      „Nach Feierabend kommt mich mein Mann besuchen, er arbeitet außerhalb und ist immer erst gegen sieben zu Hause.“ Man sah Sieglinde Roth an, dass sie sich auf den abendlichen Besuch freute. „Wenn ich meinem Horst erzähle, wie Moni Sie heute Mittag überfallen hat – das glaubt er nicht!“ Nach kurzem Zögern fuhr sie fort, „Wir sind seit unserer Kindheit befreundet, mein Mann und ich, Monika und ihr Ex-Mann, sind alle in die gleiche Schule gegangen, in die Pesta – Pestalozzi-Schule für Nicht-Weimarer – sind zusammen in die Disco und später schwofen gegangen, die Kinder kamen in ähnlichen Abständen, wenn auch nicht in den gleichen Jahren … Ja“, seufzte sie, „das war doch eine schöne Zeit, eigentlich.“ Sie schaute Alma prüfend an: „Sie sind sicher aus dem Westen?“

      Au, dachte Alma und lächelte, jetzt hast du aber Glück. „Ich bin aus Ostthüringen, Frau Roth, aus Neustadt, da bin ich zumindest aufgewachsen. Später habe ich allerdings in Göttingen studiert, ein paar Jahre in England gelebt und war schon eine ganze Weile nicht mehr in meinem Heimatort. Im Moment wohne ich in Berlin.“

      „Na, also die Thüringerin hört man aber nicht mehr heraus. Übrigens, ich bin Sieglinde, wenn du einverstanden bist. Man liegt doch hier irgendwie zusammen im Schlafzimmer, da muss man sich nicht noch siezen, oder? Du bist Alma? Aparter Name, so schön alt, gefällt mir.“

      Alma war leicht erschrocken, lächelte aber zustimmend und fühlte umgehend, dass die Barriere der Förmlichkeit und Fremdheit nun sehr viel niedriger lag.

      Nach dem Abendbrot verschwand Sieglinde für eine Viertelstunde im Bad und kam sichtbar verändert wieder zu ihrem Bett: Das graue T-Shirt war einem cremefarbenen Polohemd gewichen, deutlich körperbetont, und kein Knopf geschlossen. Tolle Figur, dachte Alma unwillkürlich, für das Alter.

      Auf den zweiten Blick sah sie, dass Sieglinde jetzt geschminkt war, sehr professionell, so kam es Alma vor, fast wie im Modejournal. Das Nachbarbett wurde mit wenigen Handgriffen aufgeräumt, die Bettdecke wurde glattgezogen, das Kissen aufgeschüttelt und das Bett wieder erklommen, eher geschickt als mühselig. Man sah, was ein paar Tage Übung ausmachten.

      Sieglinde schaute zu Alma herüber, zwinkerte ihr leicht zu und meinte in einer Andeutung von verschwörerischem Ton: „Um etwa diese Zeit ist mein Mann zu erwarten. Ein demoliertes Bein ist ja kein Grund, sich gehen zu lassen, oder? Normalerweise überhole ich mein Äußeres schon nach dem Frühstück, aber heute, mit deiner Ankunft und Monis Invasion, bin ich irgendwie aus dem Tritt.“ Damit setzte sie sich zurecht und schlug das Buch auf.

      ❧

      „Also, ihr zwei Grazien, dann lasst mal Arm und Bein weiter schön heilen. Und Sigi, lass Alma nicht aus den Augen, vor allem nicht in die Nähe einer Treppe. Schick sie zum Fahrstuhl, da kann sie wenig anrichten.“

      Als Sieglindes Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, gab es draußen auf dem Flur noch ein kurzes Stimmengewirr, dem ein lautes „Tschüss dann, bis morgen!“ folgte. Alma atmete innerlich auf.

      Horst Roth, ein großer und kräftiger, fast korpulent