Helga Dreher

Das Torhaus


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Land, Veranstaltungen in und um Weimar, das Kinoprogramm.

      Halt, das Kino! Alma staunte. In Weimar gab es offensichtlich nicht nur ein Kino, sondern gleich drei – das einer größeren Kinokette, eines mit dem Namen „mon ami“ und ein „Lichthaus“. Alma war plötzlich ganz aufgeregt. Drei Kinos! Das bedeutete, dass sie – wenn sie erst einmal in Weimar wohnte – ihrer Leidenschaft nachgehen konnte.

      Sie schaute auf und ließ den Blick über den Theaterplatz schweifen, der im Sonnenlicht schon fast sommerlich wirkte, mit Passanten in leichter Kleidung, viele davon in der Einheitskluft der Touristen T-Shirt, Cargohose, Sneakers oder Wanderschuhe, dazu den Rucksack auf dem Rücken und einen Stadtplan in der Hand. Frauen oder Paare mit Kinderwagen gingen langsam über den Platz und drehten dann fast ausnahmslos in die Richtung des Schalters mit dem italienischen Eis ab, der sich neben dem Theatercafé befand. Alma sah, dass manche der Mütter, wie sie das schon in Berlin beobachtet hatte, die Vierzig überschritten haben mussten oder von diesem Geburtstag nicht weit entfernt waren. Der eine oder andere Vater hatte graue Schläfen.

      Alma dachte daran, dass sie in diesem Jahr zweiunddreißig wurde. Ihren dreißigsten Geburtstag hatte sie in Porthmill gefeiert, an einem wunderschönen Spätsommertag auf der Terrasse vor Katherines Cottage, mit Blick auf Weiden, Schafe, das steil abfallende Ufer und das Meer darunter. Schon damals hatten alle scherzhaft ihre biologische Uhr an die schneeweiß getünchte Wand gemalt und sie daran erinnert, dass der Weg zum Mutterglück dringend das Kennenlernen und die Einbeziehung eines männlichen Partners voraussetze. Katherines Enkel Sean hatte sich sofort erboten einzuspringen, wenigstens für die ersten Versuche. Rhys, Katherines Gefährte ohne Trauschein seit über zwanzig Jahren und Vater dreier formidabler Töchter, hatte den Siebzehnjährigen darauf hingewiesen, dass die Dinge des Lebens am besten gelingen, wenn sich Enthusiasmus mit Können paarte. Er möge doch zu Ersterem das Zweite noch hinzufügen. Sean, stolz darauf, in dieser Runde auch einmal Aufmerksamkeit zu erhalten, hatte umgehende Anstrengungen in die erwähnte Richtung versprochen, worauf ihm Alma lachend den Haarschopf wuschelte und meinte, er könne nun wieder an seinen Gameboy.

      Sie hatten Salat, Fisch und Weißbrot gegessen, nicht das furchtbare englische; es gab inzwischen in Penzance italienische und französische Brotsorten – oder was man im Südwesten Englands dafür hielt. Sie hatten Rotwein getrunken, mehrere Flaschen, und Rhys hatte walisische Lieder gesungen, in die sie bald alle eingestimmt hatten, zumindest mitgesummt. An diesem Abend hatte keiner geahnt, dass es eines ihrer letzten unbeschwerten Feste sein sollte.

      Alma faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in ihren Lederrucksack. Ihr wurde bewusst, dass sie wieder einmal an einem Wendepunkt in ihrem Leben stand. Aufgewachsen in Neustadt, studiert Göttingen, gearbeitet in England, vereinsamt in Berlin, und jetzt nach Weimar …

      Wie würde sie hier leben? Sie dachte daran, wie überaus freundlich ihr die Stadt begegnet war. Natürlich nicht die Stadt als solche, sondern Menschen wie Sieglinde, Moni, Holger, Frau Rottloff, „Sekretär“ Vollmer, Benjamin Lenk auch, ja.

      Ihr wurde bewusst, wie sehr sie sich auf morgen und das Wiedersehen mit Sigi, Moni und Holger freute. Und sie war gespannt, wie das Gespräch in der Kanzlei heute Nachmittag verlaufen würde. Apropos – erschrocken schaute Alma auf ihre Uhr – viertel vier, da war Eile angesagt.

      Auf der Suche nach einem Wäschegeschäft wurde sie von der Aufschrift „Frische Schlüpfer eingetroffen“ im Schaufenster eines Ladens angelockt. Drinnen bestätigte ihr ein gutaussehender Verkäufer, dass sie hier richtig sei mit ihrem Anliegen. Alma tätigte den notwendigen Kauf und machte sich auf den Weg in die Lincolnstraße.

      ❧

      „Frau Winter! Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Konnten Sie schon einen Spaziergang machen? Sie sehen irgendwie entschlossen aus, sollte ich Herrn Lenk vorwarnen?“

      Alma staunte, wie ein junger Mann wie Jörg Vollmer so ausgesprochen charmant sein konnte. Dabei wirkte er ganz natürlich, mit fröhlichem und überhaupt nicht gekünsteltem Lächeln und einer entspannten Haltung. Heute trug er eine hellgraue Anzughose, wieder feiner Zwirn, ein weißes Hemd und eine schwarzweiße Krawatte mit farbigen Motiven.

      „Danke, alles bestens, Herr Vollmer. Und nein, warnen Sie Herrn Lenk nicht. Es gibt doch nichts Besseres als eine überraschende Attacke, oder?“ Sie ging näher an den Jungen heran und sagte entschuldigend, „Herr Vollmer, ich muss jetzt erst einmal den Dingen auf Ihrem Schlips auf den Grund gehen. Ah … “, sie lachte, „diesmal sind es ja lauter Computermäuse! Mein Kompliment, sehr schick.“

      Jörg Vollmer, dem solches Lob, seine Krawatten betreffend, in der Kanzlei Rottloff und Kollegen offensichtlich selten zuteilwurde, errötete und schien nach den richtigen Worten zu suchen – eine Situation, die ihm wohl eher neu war.

      „Wo findet man denn solche tollen Schlipse?“ Alma lächelte ihn aufmunternd an.

      „Also, das glauben Sie nicht. Meine Oma – sie feiert in diesem Jahr übrigens ihren Fünfundsiebzigsten – hat im Internet einen Krawattenshop gefunden, der sich auf ausgefallenes Design spezialisiert hat. Jetzt bekomme ich zu jedem Geburtstag und zu Weihnachten eine witzige Krawatte. Aber eine wirklich witzige, nicht solchen Müll, den man manchmal im Laden sieht.“ Er lachte, zeigte dabei makellose Zähne und sah aus wie der sympathische Enkel, den Omas einfach verwöhnen müssen. „Meine Oma überrascht mich immer wieder aufs Neue, Opa freut sich diebisch mit ihr, meine Eltern schütteln mit dem Kopf, und hier in der Kanzlei werden meine Krawatten kommentarlos, aber mit Dr. Rottloffs nachsichtigem Lächeln geduldet.“ Er schaute Alma direkt in die Augen. „Danke für das Kompliment, Frau Winter.“

      „Sehr gern geschehen, Herr Vollmer.“

      „Frau Winter, wenn Sie bitte eintreten wollen?“ Eine der Türen hatte sich hinter ihnen geöffnet und Anwalt Lenk schaute mit unbewegtem Gesicht auf die Szene im Vorzimmer. „Jörg, sorgen Sie doch bitte für Kaffee und Mineralwasser.“

      Alma zwinkerte dem Sekretär zu und machte ein verstecktes thumbs up-Zeichen. Dann drehte sie sich um und folgte dem Anwalt ins Zimmer.

      ❧

      Benjamin Lenk hatte wieder alle Papiere vor sich liegen. Alma holte tief Luft und teilte ihm ihre Entscheidung, die Erbschaft betreffend, mit. Er war nicht überrascht, schaute sie aber nachdenklich an, so als habe er sie im Verdacht, unüberlegt oder zumindest überstürzt zu handeln. (Überstürzt, lächelte Alma in sich hinein, in der Tat.)

      Dann führte er Alma erneut durch die Eckpunkte der Erbschaft und trug ihr die juristischen Schritte vor, die zu gehen seien. Es ging um Nachlassgericht, Beurkundungen, Grundbucheintrag, Erbschaftssteuer und einige andere offenbar notwendige Vorgänge. Wegen der Erbschaftssteuer möge sie nicht erschrecken, es sei zwar ein ordentlicher Prozentsatz, aber die monetäre Situation wäre auch danach noch entspannt. Die Kanzlei würde alles so zügig wie möglich notariell abwickeln, ihre Anwesenheit bei dem einen oder anderen Termin sei aber schon erforderlich.

      „So sieht es aus, Frau Winter. Ich gehe davon aus, dass Sie in etwa einem Monat stolze Besitzerin des Torhauses und Inhaberin eines Kontos sein werden, von dem Sie die Abhebungen für die Sanierung tätigen können. Ihr ‚Gehalt‘ – ich habe jetzt keinen anderen Ausdruck dafür – wird Ihnen dann ab diesem Zeitpunkt auf Ihr eigenes Girokonto gezahlt. Wir sollten nicht vergessen, Ihre Kontodaten zu notieren.“ Während er sprach, hatte Anwalt Lenk alle Schriftstücke wieder eingeordnet und schaute sie jetzt an. „Um Himmels willen, Frau Winter, ist Ihnen nicht gut? Sind Sie vielleicht doch noch nicht ganz fit?“ Er stand schnell auf, goss ein Glas mit Wasser voll und reichte es ihr.

      Alma trank das Glas leer und atmete tief durch. „Ich bin fit, Herr Lenk. Aber ich bin auch aufgeregt. Irgendwie hat mich die Wucht des Ganzen, der Veränderung nämlich, die es in mein Leben bringt, noch einmal getroffen.“ Alma schaute Benjamin Lenk fest an. „Aber ich glaube, ich habe alles bedacht. Es war nicht schwer, weil mein Leben gerade unstet und nicht geordnet ist. Oder noch nie so richtig war, jedenfalls nicht in den letzten Jahren. Das Torhaus ist ja nicht nur Besitz, sondern auch eine Verantwortung, die ich übernehme. Das ist mir während Ihrer kleinen Rede eben erst richtig klar geworden.“

      Sie überlegte einen