Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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Kasperl!«, stammelt er. Da hebt sich ruckartig der Kopf der Marionette.

      »Freili, der is allimal dabei!«

      Die Figur klappt ihren hölzernen Mund auf und zu und das Holz knackt dabei wie eine alte Eule mit ihren Kinnbackenknochen.

      »Bist also kommen um auch noch deinen alten Freund zu bestehlen? Peters du elender Dieb!«

      In Panik schließt er den Spalt. Sein einziger Gedanke ist Flucht. Doch bevor er sich umdrehen kann, geht ein helles Licht an. Im selben Moment öffnet sich der Vorhang und die Vorstellung beginnt mit einem Gong. Der Kasperle auf der Bühne wirkt auf einmal noch größer und lebendiger. Unter seinem rechten Arm klemmen die Pappdeckel mit den Romanblättern des Theodor Storms.

      »Wie kommst du Wicht an mein Eigentum!?«, schreit er zornig und stürzt sich auf die Holzfigur, um ihr die Schriftstücke zu entreißen. Doch Kasperles Arm ist hart wie Eisen. Er zerrt aus Leibeskräften an der Umklammerung. Auf einmal tut es einen leisen Krach im Innern der Figur.

      »Mörder!«, kreischt eine Frauenstimme hinter ihm. Entsetzt fährt er herum. Vor ihm steht Edda und hält ihm eine Pistole unter die Nase.

      »Woher hast du die Waffe?«

      »Aus deiner Schublade, unten im Laden!«

      »Edda, so lass dir doch alles erklären!«

      »Was willst du noch erklären, Hajo? Einmal Mörder, immer Mörder!«

      »Nein, das ist doch alles so nicht wahr! Neiiiin!!!«

      Schweißgebadet schießt er im Bett hoch. Seine Augen tasten durch den dunklen Raum. Keine Edda, kein Kasper, kein Theater, nur sein Schlafzimmer. Benommen sieht er auf die Leuchtanzeige des Weckers, drei Uhr fünfzehn. Der Sekundenzeiger scheint zu stehen. Langsam dämmert es ihm, dass er nur einem Albtraum entkommen ist. Die nächste halbe Stunde verbringt er mit dem Versuch, wieder einzuschlafen. Er wirft sich ärgerlich von einer Seite auf die andere. Es nützt nichts, er ist und bleibt hellwach.

      Wo ist sie bloß geblieben, die Edda, denkt er und macht für diese Ungewissheit seine Dämonen in der Nacht verantwortlich. Tag für Tag hatte er in der letzten Woche jede Zeitung, die ihm unter die Finger kam, nach einer Nachricht über einen Leichenfund im Watt durchgeforstet, ohne Erfolg. Edda bleibt wie vom Erdboden verschwunden.

      Das unerwartete Vakuum verunsichert ihn zutiefst. Manchmal hat er das Gefühl, als fiebere er der Entdeckung förmlich entgegen.

      »Höchste Zeit, dass der Trubel endlich losgeht«, murmelt er und steigt aus dem Bett. Nachtwandlerisch tappt er durch die Dunkelheit bis in die Küche, öffnet den Kühlschrank und greift sich eine Flasche ›Flens‹. Mit dem rechten Daumen schnippt er den Bügelverschluss auf und nimmt einen kräftigen Schluck. Der Alkohol wirkt sofort. Er lässt sich rückwärts auf das Sofa fallen. Ohne abzusetzen fließt der Rest der Flasche durch seine Kehle. Eine wohlige Wärme breitet sich im Körper aus und er starrt grübelnd durch das Fenster in die Nacht hinaus. Nur die feine Mondsichel blitzt einmal kurz hinter pechschwarzen Wolken hervor.

      Bald ist Neumond, denkt er beiläufig, während eine düstere Ahnung in ihm aufsteigt.

      Eins ist sicher, irgendwann werden sie vor der Tür stehen!

      In der ersten Zeit war er bei jedem Geräusch zusammengezuckt und dachte, dass die Polizei an seiner Wohnungstür klingeln würde. Doch nichts passierte.

      Dabei fühlt er sich bestens präpariert. Er hat sich seine Antworten genau überlegt, ist sie sorgfältig immer wieder durchgegangen.

      »Edda, natürlich kenn’ ich Edda Herbst! Die arbeitet schließlich bei mir in der Videothek.«

      »Wann ich sie das letzte Mal gesehen hab? Lassen Sie mich nachdenken. Das muss vorige Woche Montag gewesen sein. Genau, das war Montag, der 13. November.«

      »Woher ich das so genau weiß? Weil sie am nächsten Tag für drei Wochen in Urlaub gehen wollte. Warum fragen Sie denn das alles?«

      »Was, sie ist tot? Das ist ja entsetzlich! Ich kann das gar nicht glauben, die arme Edda. Was ist denn passiert?«

      »Ertrunken im Watt. Furchtbar. Sie war so ein fröhlicher Mensch. Was für ein schrecklicher Unfall!«

      Edda, Edda, Edda! Scheiße, kriege ich dieses dämliche Weibsbild denn überhaupt nicht mehr aus dem Kopf, denkt er. Während er sich eine zweite Flasche holt, fühlt er Zorn auf die tote Frau. Er setzt die Flasche an den Mund und leert auch sie in einem Zug. Doch die quälenden Bilder der Mordnacht wollen einfach nicht verschwinden.

      Da liegt sie wieder deutlich vor ihm, in ihren klitschnassen Klamotten auf dem Bauch in der Wanne, nachdem er das Wasser abgelassen hatte. Über eine halbe Stunde saß er regungslos auf dem Wannenrand und sah auf den toten Körper, aus Angst, Edda könne plötzlich doch noch aufstehen. Dann gab er sich einen Ruck, bewegte langsam seine Hände, dann seine Füße. Er schwankte in die Küche und setzte sich bewusst auf den Stuhl, auf dem er schon vor der Tat gesessen hatte. Wie von selbst entwarf etwas in seinem Hirn einen Plan. Eddas Haus war ein kleines, heruntergekommenes Ziegelsteinhaus, das dicht an dicht mit anderen Häusern an einer Durchfahrtsstraße lag. Glücklicherweise gab es auf der rechten Seite einen kleinen kopfsteingepflasterten Innenhof. Da sah er seine Chance. Er räumte sein Besteck und Geschirr vom Tisch, wusch es ab, verstaute alles im Küchenschrank und verließ das Haus durch den Nebeneingang zum Hof um ihn gründlich zu inspizieren. Ein Auto hatte hier bequem Platz. Die Wand vom Nebenhaus hatte keine Fenster. Ein großes Holztor versperrte den Blick zur Straße. Das müsste klappen. Er wusste, dass Edda allein lebte, von ihrem Freund hatte sie sich vor zirka einem halben Jahr getrennt. Ihr Beziehungsstress war häufig Thema am Arbeitsplatz gewesen. Danach hatte sie nie von einer neuen Affäre gesprochen. Ihre Eltern waren schon vor Jahren bei einem Unfall umgekommen, weshalb sie auch dieses Haus besaß. Bis auf ein paar entfernte Bekannte würde sie nach seiner Überzeugung erst mal niemand vermissen.

      Beste Voraussetzungen also, dachte er, um sie bis heute Nacht einfach hier liegen zulassen.

      Dass Edda durch irgendeinen blöden Zufall gefunden werden könnte, blieb sein Restrisiko, ein Risiko, dass allerdings nicht sehr groß war. Jetzt brauchte er nur noch den Tag wie immer ablaufen zu lassen. Pünktlich öffnete er seine Videothek. Nachdem er den ganzen Tag seinen Job so unauffällig wie möglich durchgezogen hatte, fuhr er nach Hause. Dort wartete er bis es drei Uhr war. Um diese Zeit, das wusste er genau, sind Husums Straßen so gut wie ausgestorben. Nur das Mondlicht verursachte ihm ein mulmiges Gefühl im Magen. Es überzog die ganze Stadt mit einem weißlich hellen Schein.

      Wie ein Leichentuch, dachte er und geriet in der Kurve zum Binnenhafen sogar einige Sekunden in Panik, dass man ihn heimlich beobachten könnte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er bog rechts in die Deichstraße, stoppte und schaute sich um. In der gesamten Häuserreihe waren alle Fenster dunkel. Niemand war weit und breit in Sicht. Er stieg aus, öffnete das Holztor und bugsierte seinen alten Bundeswehr-Jeep rückwärts in Eddas Hof.

      Er erwacht gegen neun Uhr völlig verdreht auf dem Sofa. Ein stechender Schmerz zieht sich vom Nacken hinauf in seinen Hinterkopf. Benommen schleicht er ins Bad und sieht ein bleigraues Gesicht mit tiefen Rändern unter den Augen, das ihm aus dem Spiegel entgegen blickt. Erst als er seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl hält, kommt er langsam wieder zu sich.

      Dreißig Minuten später parkt er seinen Wagen in der Süderstraße, genau gegenüber der Videothek. Als er die Eingangstür öffnet, steckt die ›Husumer Rundschau‹ schon im Briefschlitz. Der beleuchtete Getränkeschrank wirft ein fahles Licht an die gegenüberliegende Wand. Er legt die Zeitung auf den Tresen, dessen Umrisse er im Halbdunkel gerade noch erkennen kann und nimmt sich eine Fanta. Dann knipst er Licht an und erschrickt unwillkürlich. Die Räume haben sich in seinen Traum aus der vergangenen Nacht verwandelt. Mit einem mulmigen Gefühl fingert er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schließt die Tresenschublade auf. Sein Herz pocht bis zum Hals. Neben dem Kassenbuch liegt seine ›Walther 7,65 mm‹, wie immer. Auch wenn er eigentlich nichts anderes erwartet hatte, braucht er längere Zeit, bis er sich wieder ganz beruhigt hat. Er ist zutiefst erstaunt, wie schnell