Christopher Ecker

Fahlmann


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Unbehagliches Schweigen. «Igel sind lustig», meinte Susanne.

      «Ich könnt mich totlachen!», sagte ich.

      Ihr Verehrer begann weiterzufaseln (fortgesetzter Igel-Blödsinn, um sich bei Susanne als Tierfreund einzuschleimen), wobei sein Blick leicht hektisch (Käpten Nemson streicht die Segel) über den Boden glitt, als habe er dort etwas Wichtiges verloren (die Maupilus). Ich beschloss, den Weiß-Haar-Mann auszusitzen. «Und was machst Du?», fragte er, als ihm nach einer Weile dämmerte, dass ich keineswegs vorhatte, das Wohnzimmer allzubald wieder zu verlassen.

      «Schreiben.»

      «Wie … schreiben?»

      «Einen Roman.»

      «Toll», sagte er. Und zu Susanne: «Ich wollte auch immer mal einen Roman schreiben. Was alles so im Lager passiert. Ja. Ähm. Vielleicht mach ich das auch mal, wenn ich die Zeit dazu hab.»

      «Ja, mach das mal!», empfahl ich ihm von oben herab. Meine uneingeschränkte Verachtung gehört Leuten, die glauben, man bräuchte nur Zeit, um einen Roman zu schreiben. Ich war einkaufen. Hui, was ich da erlebt hab! Da könnt ich glatt nen Roman drüber schreiben. Was heute an der Uni passiert ist. Ich sag dir: ein Roman! Zu jener Zeit notierte ich: Schreiben bedeutet Qual, Leiden, Verlust des wirklichen Lebens, und da man keine Zeit und Kraft hat, aufzupassen, kommen irgendwelche Burschen angelaufen und schnappen einem die Frau weg. «Ich wäre überaus neugierig», feixte ich, «einen packenden, bestsellerverdächtigen Edeka-Roman aus deiner Feder zu lesen. Da wäre ich wirklich sehr sehr neugierig drauf!» Susanne kraulte den Kater im Genick, der immer noch auf dem Schoß des Igelfreunds lag; Oms Schweif zuckte in sichtlichem Unbehagen; dann stand der Kater auf, krallte sich in Jeansstoff (Weiß-Haars Geldschublade erbebte), machte einen Buckel, sprang dumpf auf den Teppich und stolzierte erhobenen Schweifes davon, wobei er es sichtlich genoss, dass ihm alle Welt die gebührende Aufmerksamkeit zollte. «Er mag keine Fremden», sagte ich.

      «Er hat sich aber gleich zu Wolfgang auf den Schoß gesetzt.»

      «Anfängerglück», ömmelte ich böse.

      «Ich weiß nicht, was du hast», sagte Susanne, als wir endlich alleine und wieder in der Lage waren, ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu führen. «Er ist doch ein netter Arbeitskollege.»

      «Ganz nett sind sie alle. Höß war auch ein ganz Netter …»

      «Du hast dich unmöglich benommen.»

      «Al Bino ist ein Idiot.»

      «Nenn ihn nicht so! Weißt du überhaupt, wieso er so weiße Haare hat?»

      Ich schüttelte den Kopf und erfuhr: Der gute Al fährt mit seinem Gabelstapler den ganzen Tag vom Kühlraum ins Lager und wieder zurück. Im Kühlraum herrscht eine Temperatur von 20 Grad minus; im Lager dagegen sind es 18 Grad plus. Es ist so arschkalt im Kühlraum, dass weißer Nebel rauswabert, wenn die Schleusen aufgehen. Wie in einem Hard-Rock-Video. Und unser Freund Al, yeah, yeah, hält es nicht für notwendig, bei der Arbeit eine Kopfbedeckung zu tragen, yeah, yeah, yeah!

      «Und nach drei Monaten», schloss Susanne, «waren seine Haare schlohweiß.»

      «Da hätte sich Al besser ne Pudelmütze aufgesetzt.»

      «Ach, halt doch die Klappe!» Susanne sah aus dem Fenster, ein Laster rumpelte vorbei, das Kaffeegeschirr auf dem Wohnzimmertisch antwortete mit freudigem Klirren, draußen ertönte eine Hupe, meine Frau hob die Hand, winkte jemandem auf der Straße (jemandem, der im LKW vorbeifuhr?) und sagte mit gefährlich leiser Stimme: «Vorhin hat eine Inge angerufen.»

      «Und?», fragte ich.

      «Nichts und.»

      «Ruft sie nochmal an?»

      «Hat sie nicht gesagt.» Susanne drehte sich zu mir um und imitierte eine affektierte Frauenstimme: «Ist der Georg da?» So ein Quatsch! Inge redete nicht so! «Schade!», flötete Susanne weiter. «Dann richten Sie ihm bitte aus, Inge hätte angerufen. Danke. Auf Wiederhören.»

      Inge war seit der VHS-Lesung nicht mehr ins Thomas-Mann-Seminar gekommen. Verkratzte Handrücken. Susanne belauerte mich aus den Augenwinkeln. «Eine Kommilitonin», gab ich zu (schuldbewusst). «Von der Uni» (naheliegend). «Sie war», (versteckter Vorwurf), «bei meiner Lesung.»

      «Ist sie hübsch?»

      «Was ist das denn für ne blöde Frage?»

      Susanne hob die rechte Augenbraue.

      «Ja, sie ist hübsch, aber das hat nichts zu bedeuten. Was gibts denn da so saublöd zu grinsen?»

      «Und du regst dich auf, wenn ich mal nen Arbeitskollegen zum Kaffee einlade! Ich bin nur froh, dass der Wolfgang so ein feiner Kerl ist! Stell dir vor, er würd alles in der Firma rumerzählen!»

      «Würd was alles in der Firma rumerzählen?»

      «Natürlich deinen peinlichen Auftritt als Hausgockel!»

      «Habt ihr Streit?»

      Jens stand in der Tür.

      «Nein», sagte Susanne. «Dein Vater ist nur ein wenig gestresst, weil er sein Studium nicht auf die Reihe kriegt.» Unten pinkelte Mutter. Laut plätschernd. Der Strahl wechselte zweimal die Tonlage, wurde leiser, wurde lauter und pladderte aus. «Das hat gerade noch gefehlt!», stöhnte Susanne.

      «Komm mit!» Ich nahm Jens an der Hand. «Ich les dir was vor.»

      «Was Lustiges?»

      «Selbstverständlich. Heute werden nur lustige Sachen vorgelesen.»

      In seinem Zimmer angekommen erklomm Jens das Etagenbett, ließ die Beine baumeln, ich kippte Schmutzwäsche vom Schreibtischstuhl und rückte ihn so an die Kletterleiter des Betts, dass ich die Füße auf die fünfte Sprosse legen – verfluchter Schnappschuss! Obwohl Jens damals sieben Jahre alt war, ähnelt er in meinen Erinnerungen dem Vierjährigen, dessen Bild ich im Geldbeutel habe; ein Beispiel dafür, wie der einmalige Fingerdruck auf einen Auslöser das ganze Erinnerungsvermögen schachmatt setzen kann. In einem Akt unverzeihlicher Willkür reißt die Fotografie einen strenggenommen völlig bedeutungslosen Moment aus der Zeit, und an diesem bis zum Platzen mit scheinbarer Bedeutung aufgeladenen Augenblick staut sich von nun an der ohnehin unzuverlässig strömende Fluss des Erinnerns. Staut sich, bildet Strudel, und das Wasser fließt nicht mehr weiter, um das versandende Flussbett von Schwebteilchen und Algen zu befreien. Susanne, von der ich kein Bild bei mir habe, sehe ich deutlich vor mir, schmerzhaft deutlich, aber das Gespenst des fotografierten Vierjährigen schiebt sich beständig über meinen damals schon siebenjährigen Sohn. Ich erinnere mich an den launischen Zug um seinen Mund, an seine Art, den Ranzen ins Kinderzimmer zu schleudern, wenn er aus der Schule nach Hause kam, an seine Angewohnheit, mit den Augen zu zwinkern, wenn er sich sehr konzentrierte, doch unter beharrlicherem Zugriff verschwimmt die Gestalt meines Sohns, verflüchtigt sich, wird zu einem Nebelfleck inmitten überdeutlicher Kulissen. Ich glaube, ich mochte den Nebelfleck sehr. Besonders wenn er vor Vergnügen auf der Stelle hüpfte, wie es nur Kinder und Irre können … Ich habe alles falsch gemacht.

      Ich stecke mir eine Zigarette an. Weiter! Momentan liegt der verhängnisvolle Schnappschuss neben der schreibenden Hand auf dem messingeingefassten Marmor-Rund des Café-Tischs. Selig sitzt Jens auf einem Kinderfahrrad, das sich mit vor Anstrengung verkrümmten Stützrädern vom Schotter erhebt. Er hat Susannes Augen, meinen Mund, meine unkämmbaren, schwarzen Haare, und das Gesicht – ja, so könnte Großvater als Kind ausgesehen haben. Jens mochte Geschichten. Abends saß ich lange an seinem Bett und erzählte von Curbel Gölmop, einem hummelkleinen Mann im schwarzen Hochzeitsanzug. Curbel kann fliegen. Klemmt er sich dabei ein rotes magisches Plastikeimerchen unter den Arm, wird er unsichtbar. Jens. Was fällt mir noch zu Jens ein? Es bekümmerte mich, dass er irgendwo diese Filme sah; bestimmt bei Florian, dessen Eltern beide berufstätig waren. «Ich habe Angst, dass er verroht!», hatte ich Großvater am Telefon erzählt. «Am liebsten würde ich ihn gar nicht aus dem Haus lassen. Ich lese ihm Die Schatzinsel und Der kleine Hobbit vor, und das gefällt ihm gut, sehr gut sogar, aber dann schaut er sich bei Florian oder irgendeinem anderen