Christopher Ecker

Fahlmann


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Filter und lauschte dem ansteigenden Tropfengesang, der aus dem Inneren der Kanne gluckste – und wenn das Leben nichts wäre, als eine fast endlose Chance, Kaffee zu trinken, schrieb ich ins Notizbuch, hätte es dann nicht mehr und unverrückbareren (dieses Wort ist feige unterschlängelt) Sinn, als man ihm mit Religion, Liebe, Kunst usw. geben könnte?

      Beim Niederschreiben dieses Gedankens pfiff ich vor mich hin, heute ist kein Arbeitstag (keine Särge!), kein Unitag (keine Langeweile!), ich nahm die Tasse, schreiben, die Kanne, schreiben, das Notizbuch, schreiben, und stieg, ungefährliches Schwippschwapp, hinauf ins Dachbodenbüro, hinauf zu Thomas Manns Personennamen, hinauf zu meinem Roman. Wieder höre ich das Knarren der Stufen, sehe den Zeitungsstapel auf dem Treppenabsatz, den Zettel Schriftsteller bei der Arbeit an der Tür, peinlich, sollte ich abhängen, ach, ist doch egal, sieht sowieso keiner hier oben, winselnd schwingt die Tür in den Raum, wo eine vom trüben Auge der Dachluke beleuchtete Lichtung den anrückenden Sperrmüllschwadronen wacker standhält. Holzkisten versuchen die freie Fläche zu erobern, Wäschekörbe machen sich zum Entern bereit, ich erinnere mich, erinnere mich, ich erinnere mich gut. Vom Standardinventar des typischen Hollywoodspeichers (die einbeinige Schneiderpuppe, die defekte Standuhr, das Schaukelpferd aus der Kindheit des Helden, der Schrankkoffer mit den Memoiren Jack the Rippers) ist hier oben lediglich die defekte Standuhr vertreten, ein glotzäugiger Zyklop mit erstarrten Hoden.

      In die Knie gesackte Pappkartons kriechen dem Lichtfleck unter der Dachluke entgegen, eine Garnitur verdreckter Gartenmöbel türmt sich an der Nordwand, ich lasse die Ostwand und die Kleiderschränke hinter mir, denen beim Öffnen ein capartähnlicher Duft entströmt, eine verhaltene Mottenkugelnuance im modrigen Odeur meines Büros, hier arbeitet einer, dessen Namen in Staub geschrieben wurde. Nach wenigen Metern mündet der Pfad in eine gerodete Fläche, die sich inmitten des Gerümpeldschungels auftut. Hier lebt mein Schreibtisch, Staub, prustendes Niesen, ich stoße das gestauchte Rechteck der Dachluke auf: Frischluft! An der schiefen Wand über dem Schreibtisch hängen die Porträts meiner literarischen Heroen. Misstrauisch beobachten sie, mit welch zuversichtlicher Entschlossenheit ich heute Tasse und Thermoskanne auf den Tisch stelle, Platz nehme und das Notizbuch aus der Brusttasche des Flanellhemds ziehe. Gute Notiz, das eben mit dem Kaffee, kann man eventuell einarbeiten, morgens, wenn er wach wird, vielleicht einen Kaffee mit den anderen. Ich schenke Kaffee ein, lege das Notizbuch neben einen zum Zigarettenkippenigel metamorphosierten Aschenbecher, der bewegliche Schachtelhalmarm der vorzeitlichen Lampe beugt sich in lüsterner Neugierde über das Innenleben der soeben entkleideten Schreibmaschine, links von mir liegen die fertigen Seiten des Romans auf einem leeren Bierkasten, der sich vergebens (natürlich werden wir ihn beim Umzug vergessen) nach Pfand und dem geselligen Gerassel der Leergutannahme sehnt, schreiben, ich muss schreiben, ich muss jetzt endlich schreiben!

      Wenige Minuten später legte ich die Arme auf den Tisch und den leeren Kopf darauf. Unten in der Küche war mir alles so leicht erschienen. Als bräuchte ich nur, tripptrapp, hinaufzugehen, Kaffee zu trinken (prompt dampft es aus der erinnerten Tasse), und wäre dann in der Lage, eine Seite nach der anderen runterzureißen, druckreife Seiten, perfekte Seiten, hundert Seiten, anspielungsreich, stilsicher, der Papierstapel wächst, dreihundert Seiten, und wächst, achthundert Seiten, neunhundert, und wächst weiter ins Unermessliche, Büchnerpreis, Spiegelinterview, und im Blitzlichttaumel würde ich allen danken. Danke, lieber Verleger! Danke, lieber Lektor! Danke, lieber Leser! Danke, Georg Fahlmann! Danke! Danke! Danke!

      Als ich noch mit der Adler Tippa 1 schrieb (sie verstaubt im wenig erforschten Süden des Gerümpel-Dschungels), pflegte ich willkürliche Buchstabenkombinationen zu tippen, um mich in Schreiblaune zu bringen. Mit heftigem Tastendruck weckte ich die Typenhebel und ließ sie aus dem Korb schnellen. Ungelenk schoss das Q um die Ecke, knallte hart und entschieden aufs Papier. Das Z und das H schlugen brutaler zu, sie waren die Preisboxer unter den Typen, und wehe dem, der es wagte, ihre Freundinnen schief anzusehen! Die 1 kratzte so haarscharf die Kurve, dass man froh war, wenn dieser todesmutige Rennfahrer lebendig das Ziel erreichte. Perkkk!, stanzte das verschlagene i ein Loch ins Papier, und ein Druck auf die Leertaste zu Füßen der durchbrochenen Buchstabentreppe schob die Walze nach Klingstadt. Doch nun (heute schreibe ich mit der Hand) saß ich vor einer moderneren, aber nicht weniger störrischen Schreibmaschine. Nein, keine Personennamen. Heute nicht! Und du brauchst gar nicht erst mit dem Schreiben anzufangen! Dein Held schläft noch. Oder siehst du irgendwelche Bilder vor deinem inneren Auge? Nein. Na, also! Und hörst du irgendwelche Stimmen? Nein. Na, bitte! Und was soll ich jetzt tun? Dir bleiben nicht viele Möglichkeiten, Georg! Ich klappte das Notizbuch auf, wir können es ja später noch einmal versuchen, viel später, du schreibst sowieso am besten nachts, prüfte einige als Motti verwertbare Zitate, down these mean streets a man must go, und puzzelte wie so oft, wenn meine untreue Muse fremden Literaten zu Diensten war, an meiner persönlichen, kläglich einfältigen Philosophie herum, durch deren Verschriftung ich Ordnung in mein unsortiertes Leben zu bringen hoffte: auf den ersten Blick eine Bibliothek, auf den zweiten ein Dachboden mit einer Schreibmaschine, auf den dritten ein dem Verfall preisgegebener Palast mit Jens und Susanne, auf den vierten eine Vorstadtkneipe mit Achim, auf den fünften ein Wohnzimmer mit Winkler, auf den sechsten ein Transit mit Heinz usw. Dies alles jedoch nur in der Zeit vor der Abreise.

       Noch war ich nicht in Paris. Noch wünschte ich nicht, mein Leben wäre für alle Zeiten ‹unsortiert› geblieben. Noch arbeitete ich fast täglich an meinem Roman. Abermals (zurück!) taucht das schwingende Lot (zurück, zurück!) in den Zeitsee, Mnemosyne hat heute leichtes Spiel mit mir und versetzt mich wieder auf den Dachboden. Ich halte etwas in der Hand, es fühlt sich glatt und warm an, ein Buch, ein kleines Buch. Ich steckte den Notizblock in die Brusttasche und betrachtete die Schreibmaschine. Vergiss es! Kurzfristig erwog ich, wieder ins Bett zu gehen, das Gesicht in Susannes duftendem Kissen zu vergraben, ein verlockender, ein gefährlicher Gedanke, denn ich fand es seit einigen Wochen immer beschämender, von Jens geweckt zu werden, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Was ist dein Vater von Beruf? – Keine Ahnung, der liegt den ganzen Tag im Bett und schläft. Ein Knattern näherte sich, schwoll im Hof an, flatterte zwischen den Hauswänden wie ein aufgescheuchter Lärmvogel, beruhigte sich, die Vespa stotterte noch einige Verwünschungen, dann blieb ihr mit einem heiseren Röcheln die Luft weg. Leisere Geräusche folgten: Helmausziehen, Vespa an die Wand lehnen, Nase hochziehen, Schleim in die Mundhöhle husten, herzhaft ausspucken.

      «Alte Sau!», rief ich zur gekippten Dachluke hin.

      «Selber Sau!», schallte es draußen. Schritte, Heinz öffnete die Tür des Büros (das Riffelglas klirrte), Tach, Jörg (Heinz), mach zu, es zieht (Onkel Jörg), und mit dem Geräusch plötzlichen Lufteinsaugens glitt die Tür über den Teppich des Beerdigungsinstituts, klackte ins Schloss. Die Stille, die sich nun wieder über das Haus stülpte, störten lediglich die monotonen Versfragmente der Vogelbarden, denen in ihrer geistlosen Balzerei der alles verbindende Kehrreim entfallen war. Wahrscheinlich trinkt Heinz jetzt ein Frühstücksbier mit Onkel Jörg. Die beiden mussten sich nicht mit fliehenden Worten rumplagen, mit fehlendem Sinn, mit verpatztem Rhythmus, mit Jasmin. Flasche auf, zum Wohl, und weg damit! Ex oder Arschloch! Nöte mit weißbleibenden Seiten waren ihnen so fremd wie Mülleimer voller Absagen. Von der Verflüssigung des Kosmos, schrieb ich ins Notizbuch, strich es durch, schrieb: Dobitris & Flabitris, strich auch das.

      Vor einigen Tagen hatte mich Heinz nach einem missglückten Bäckereibesuch darüber aufgeklärt, was es mit den Dobitris und Flabitris auf sich hat. «Und was bist du?», fragte ich. – «Sonderfall», strahlte Heinz. «Ich bin ein Bitri!» – «Ich auch», lachte ich. «Wenns die richtige Temperatur hat, eiskalt musses sein, ists mir scheißegal, ob man mein Bier zapft, in eine Dose eingeschweißt oder mit grünem Glas ummantelt hat.» – «Und was müssen Bitris jetzt tun?», rief Heinz. Er brachte den Blinker mit einem lässigen Handkantenschlag zum Ticken, bremste, der zupackende Gurt drückte mir die Luft aus den Lungen und der rechte Vorderreifen des gleichermaßen verdutzten Transits erklomm den Bordstein vor Sonjas Hähnchen Grill. «Hier kommen die Dobitris!» Heinz zog die Handbremse, sprang aus dem Wagen, grölte Frechheiten über die Straße, die auf das Konto einer jungen Mutter im Minirock gingen, dann öffnete ein Schulterstoß die Glastür der Imbissbude. «Zwei Bier für die Männer, Schätzchen, und ne weiße Curry für mich!» Heinz sah mich an, ich nickte, er korrigierte: «Zwei weiße Curry für die Männer!» Außer dem alten Hanjob, der am Tresen klebte,