es mehrfach (sang ein Gedicht?) und gab erst Ruhe, als ihm Sonja (verhärmtes Frätzchen, schiefer Mund, Papageienlachen) ein kleines, mit Mumienbinden aus Packpapier umwickeltes Fläschchen reichte. Danach verkündete sie strahlend: «Ich mach euch heute Extralange!» Hanjob wieherte und biss sich erschrocken auf die Unterlippe, als ihm Heinz mit dem gebogenen Zeigefinger drohte. «Hättst wohl auch gern nen Extralangen?» Hanjob begann vor Angst zu zittern, und Heinz murmelte mit einem raschen Blick in meine Richtung: «Bestell dir nochn Underberg, Hanjob! Geht auf mich.» Ich legte die Zigarettenschachtel neben einen verbogenen Plastikteller, den verkrustete Brandwunden als Aschenbecher auswiesen – und da sah ich mein grinsendes Spiegelbild in der Glastür. Richtig. Ich grinste. Ich war froh. Stellen Sie sich das bitteschön vor! Nichtsahnend blickt der Unglückliche in den Spiegel – und sieht sich darin grinsen!
Damals war ich so viele Menschen, aber nur als Heinz’ Begleiter (und manchmal auch als angehender Quartalssäufer in Mollingers Eck) besaß ich ein derart unbekümmertes Naturell, dass es mich abends, wenn ich die Erlebnisse des Tages im Kopfkino der Schlaflosigkeit Revue passieren ließ, mit Staunen erfüllte. Hammett hätte alles distanziert beobachtet; Chandler hätte Sonjas Hähnchen Grill gar nicht erst betreten; und ernstzunehmende Schriftsteller wissen wahrscheinlich gar nicht, dass es sowas wie Sonjas Hähnchen Grill überhaupt gibt; und ich, nun, ich benahm mich hier etwa so, wie R. S. Prather schreibt: Ein dümmliches Grinsen im Gesicht stand ich am brusthohen Plastiktisch und wartete auf meine Currywurst. In Sonjas Hähnchen Grill gab es noch die gute, alte, richtige Currywurst, nicht diesen Beschiss, den sie einem mittlerweile fast überall anzudrehen versuchen. Die aus der Schnippelmaschine gepurzelten Wurststücke wurden mit Ketchupgirlanden garniert, dann ging darauf ein Schwefelregen aus dem Currystreuer nieder, und schließlich flutete man die leckere Sauerei mit der seit Tagen munter vor sich hinblubbernden Schaschliksauce. Dazu gab es einen zähen Doppelweck zum Tunken. «Und jetzt zu euren Extralangen!» Sonja legte zwei tiefgefrorene Weißwürste auf den Rost, Heinz drängte sich hinter ihr vorbei, kniff ihr in den knochigen Arsch (erfreutes Quietschen), fummelte am Kühlschrank herum und kam hüftschwingend hinter der Theke hervor, zwei Halbliterdosen schwenkend wie Rumbakugeln. Heinz ist einer dieser Menschen, heißt es im Notizbuch, die ins Leben einsteigen wie in einen Linienbus. Unbeirrt fährt der Bus durch die Stadt, hält an Bierhallen, an Kneipen, an Fitnessstudios, an Würstchenbuden – und schließlich am Friedhof. Heinz hatte nie eine ordentliche Schule besucht, er floh vor seiner Familie, er soff sich das Hirn weg, und ihm würde die wunderbarste aller Fluchten, das Lesen, sein ganzes Leben lang versagt bleiben. Wahrscheinlich hat er noch nicht einmal Die Bienen aus dem Monsterfilm gelesen, und da ich die Bienen jetzt ins Spiel gebracht habe, muss ich, aber das kennen Sie ja mittlerweile von mir, weit ausholen, aber das mache ich nur, weil es wichtig ist, zwo, drei, weit ausholen mit dem Gedankenkescher, vier und hep! – ein schneller Kescherzug durch die Zeit und los!
An meinem dreißigsten Geburtstag (Susanne telefonierte damals noch nicht täglich mit dem Weiß-Haar-Mann, sondern erzählte mir, was sie beim Einkaufen erlebt hatte) saß ich mit Heinz in Onkel Jörgs Büro. Wir tranken Himbeerlikör, weil sonst nichts da war, und unterhielten uns über seine Vergangenheit als Powerlifter: Urkunden, Rekorde und persönliche Bestleistungen. «Kniebeuge und Kreuzheben, da war ich über 200 (dohwarisch iwwerzweihunnerd). Und auf der Flachbank hab ich 177,5 Kilo gedrückt. Ich hätt auch die 180 gepackt, aber dann kam mir die Scheißzerrung dazwischen. Musste mir immer Eisbeutel auf die Schulter legen, einreiben und so Zeugs, und dann hab ich irgendwie den Anschluss verpasst. Na ja, vielleicht trainier ich irgendwann wieder. Auf der Bank sind bestimmt noch 125 Kilo drin.» – «Was würd ich denn so packen?», fragte ich. Heinz drückte die Zigarette aus, Kopfwiegen, Genickkratzen. «Vielleicht 60 Kilo.» Zum ersten Mal sah ich bewusst die Krähenfüße in seinen Augenwinkeln. Und wie grau sein Haar geworden war! Heinz steckte sich eine Gauloises an. «60 Kilo ist vielleicht ein bisschen großzügig geschätzt, aber du bist ja ziemlich sehnig vom Sargtragen, vielleicht packst du ja die 50 Kilo (paggschdujoh diefuffzischkielo), aber», tiefes Luftholen, «du hast ja heute Geburtstag (awwerdu haschdjohheudgeburdsdah)!» Er legte ein silbern glänzendes Taschenbuch auf den Tisch und ließ es zu mir rüberschlittern:
Der berühmte Privatdetektiv
SHELL SCOTT
Kriminal-Bestseller von R. S. Prather
DIE BIENEN AUS DEM MONSTERFILM
Heiser: «Du liest doch gern.» Auch heiser: «Danke! Das les ich direkt heute Abend!» – «Was ist denn das?», fragte Susanne, als ich nach Hause kam. – «Hat mir Heinz zum Geburtstag geschenkt.» – »Pack das bloß weg, bevor Jens es in die Finger bekommt!» – «Kleine Kostprobe gefällig?»
Sie rannte an den riesigen Seetang-Gewächsen vorbei, sprang über fleischfressende Pflanzen und raste vor der kochendheißen Lava davon. Sie trug ein Negligé, das die Farbe dünnen Nebels hatte, und es rutschte ständig ihre Schenkel hoch, während sie lief, und ihre bloßen Beine leuchteten weiß im Sonnenlicht. Sie rannte sehr schnell, aber die Riesenaustern holten trotzdem auf.
Klack-klack machten die Austern. (…)
Ja, es sah so aus, als ob die Austern sie einholen würden. Sie war zwar der kochenden Lava entkommen, aber jetzt stand sie am Klippenrand, vor ihr lag das schreckliche Meer des Feuers. Sie saß in der Falle.
«Sowas liest man bestimmt in Spitzbergen!» – «Du machst das Buch sofort wieder zu!», sagte Susanne. Ich protestierte: «Aber jetzt gehts doch erst richtig los …»
Cherry schrie – das machte sie sehr schön.
Und hinter ihr kamen die Riesenaustern näher.
Cherry schrie wieder, jetzt eine halbe Oktave höher.
Klack-klack. «Iiiihhh.» Klack-klack. «Iiiiiihhhhh.» Klack-klack-klack! «Iiii aaaahhhhh!»
»Der Esel ist doch klasse!» – »Ganz große Klasse!», seufzte Susanne. Zwei Tage später, als ich wieder mit Heinz unterwegs war, wollte er natürlich wissen, ob es gut gewesen sei. «Was?», fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Er bot mir eine Gauloises an. Dankend lehnte ich ab. Klack-klack machten die Austern. Schwungvoll bog er in die Von-Boka-Straße. Cherry schrie – das machte sie sehr schön. Er warf den dritten Gang rein. Leise: «Buch. Das Buch. War das Buch gut?» – «Welches Buch?» – «Das Krimibuch, das ich dir», Räuspern, «zum Geburtstag, du weißt schon … vorgestern (vohrgieschder) … das Buch halt.» – «Ahhh, das Buch!» Ich mimte einen Anfall spontanen Erinnerns, aber die Riesenaustern holten trotzdem auf. «Das war Klasse.» Klack-klack. «Spannend.» Iiii aaaahhhhh! «Habs in einem Rutsch durchgelesen. Ich mag so Privatdetektivkram. War ne verdammt gute Idee von dir!»
Und Heinz saß glücklich hinter dem Steuer im Kommunionsanzug, saß da wie ein Junge, der seiner Mutter heimlich einen Kuchen zum Muttertag gebacken hat, aber weil ich leider kein guter Schauspieler bin, kein überzeugender Lügner, schien er doch was gemerkt zu haben, denn an meinem nächsten Geburtstag kehrte er wieder zu seinem Standardgeschenk (Flasche Cognac) zurück. Die Bienen aus dem Monsterfilm erhielten jedoch einen Ehrenplatz im Bücherregal, und oft erklärte ich Susanne, sie (die Bienen) wären das allerschönste Geschenk, das ich in meinem Leben bekommen hätte. Heinz fehlt mir, krakelige Schrift, unter meinen Schuhsohlen rumpelt die Métro und verführt die Espressotasse zu einem Scheppertänzchen auf dem Tellerchen, vielleicht (zurück, zurück!) sollte ich meinen Helden von Riesenaustern träumen lassen. Quatsch, wenn ich anfange zu klauen, bin ich keinen Deut besser als Winkler! Ich deckte die Schreibmaschine ab, kann Traumszenen in Büchern ohnehin nicht ausstehen, eine Wolke, die wie ein aufgequollener Wattehase aussah, schwamm durch das Himmelsrechteck in der schrägen Wand, unten klingelte das Telefon, hör auf zu arbeiten, klingelte es erlösend, hör auf zu arbeiten, mach heute Nacht weiter, hör auf, leg dich schlafen, gibs auf, aber flitz jetzt erst mal runter und heb meinen Hörer ab, du Depp! Ich hoffte natürlich, dass Inge es so hartnäckig läuten ließ. Wieso ruft sie mich erst jetzt wieder an? Aber allein, die Tatsache, dass sie wieder anruft …
Doch es war Struebing, der hilflose Buchhändler.
«Spreche ich mit Herrn Fahlmann?»
«Am Apparat!»
«Ihr Großvater ist wieder da.»
«Aha»,