Kinderbuch. Denn die Bücher selbst werden zu einem Spielzeug, wenn sie mich zum Träumen einladen.
LACHEN ODER WEINEN
Tödlich getroffen im karstigen Gebirge, gestützt von seinem Blutsbruder, schweiften seine Gedanken noch einmal in die Vergangenheit, hin zum Silbersee und zum Beginn ihrer jahrelangen Freundschaft, die auch mich immer wieder mit ganzer Leidenschaft in den Bann gezogen hatte.
„Winnetous Seele muss gehen. Winnetou ist bereit. Leb wohl …“
Als man durch die Kinolautsprecher deutlich die Sterbeglocken von Santa Fe vernehmen konnte, kommentierte ich mit meinem Schulfreund das doch allzu pathetische Ende unseres Leinwandidols.
„Requiem im Dom!“, sagte mein Freund.
„Gleich tragen sie ihn hinaus auf den Zentralfriedhof!“, fügte ich hinzu – und dann konnten wir unser bislang unterdrücktes Lachen kaum mehr für uns behalten. Winnetous treuer Rappe wieherte zum Abschied, und die Dame in der Reihe vor uns drehte sich fürsorglich um und meinte mit wässriger Stimme: „Ihr braucht nicht zu weinen, sein Tod ist ja nur im Film, sie werden bald wieder gemeinsam einen neuen Film drehen!“
„Ja!“, platzten wir lachend-weinend im Chor heraus, sahen uns kurz an und mussten dann heftig weiterlachen. Dieses Erlebnis, das ich mit dreizehn Jahren hatte, prägte mich für mein weiteres Leben. Ich wusste seitdem, dass sich ein tiefes, den ganzen Körper berührendes, tränenauslösendes Lachen genauso anhört wie ein trauriges Schluchzen und Weinen. Meine damals gewonnene Erkenntnis half mir auch an jenem bitterkalten Wintertag, als ich mit meinem Großvater einen stark vereisten Platz überqueren musste, um zum großen Weihnachtsmarkt zu gelangen. Es war nahezu ein unmögliches Unterfangen! Einmal, zweimal, nein, dreimal riss es ihm förmlich die Füße vom Boden und er lag auf der eisigen Straße.
Es sah sehr komisch für mich aus und ich musste jedes Mal auflachen, wenn mein Großvater einen weiteren Sturzflug machte. Er aber beruhigte mich lächelnd: „Ist nichts passiert, du brauchst nicht zu weinen!“
Da hatte ich an diesem Tag doppeltes Glück, denn mein Lachen war mir recht peinlich gewesen. Und irgendwie liebte ich doch meinen Großvater noch mehr als diesen Winnetou.
SCHLÄGE
Ich liebe den Keller unseres Hauses. Er ist mein Zufluchtsort, wenn ich Schläge vom Vater oder vom Großvater einstecken muss. Meine Mutter weint dann mehr als ich. Ich werde von Schlag zu Schlag verbitterter, wütender, giere aber auch nach Freiheit. Unter dem Haus fühle ich mich sicher wegen der vielen Verstecke, in denen ich meine kindliche Fantasie auslebe. Mein Großvater reißt mich oft aus den Armen meiner Mutter, wenn ich etwas angestellt habe, und verprügelt mich brutal. Wahrscheinlich gibt er die Schläge seiner Kindheit an mich weiter. Ich habe Angst vor ihm. Mein Vater schlägt mich auch, aber nie fest, weil er unsicher ist, nicht mit mir fertig wird. Durch seine Schläge spüre ich noch seine Liebe.
An einem Ferientag spiele ich wieder im Keller. Im Vorratsraum steht ein Steinfass mit Kleie für die Hühner. Es raschelt im Fass. Eine Maus ist darin, versucht panisch, an der glatten Wand des Fasses hochzuklettern. Sie sieht putzig aus mit ihren runden Miniaturaugen und den feinen Barthaaren. Mir ist, als bäte sie mich um Hilfe. Großvaters feste Schritte nähern sich. Ich erstarre. „Was treibst du dich hier wieder rum?“, tönt er, als er mich sieht. Sein Blick erfasst die hilflose Maus, und mit klobiger Hand versucht er sie zu fangen. Wie in Trance beginne ich zu schreien. „Lass sie frei, lass sie frei!“, brülle ich und trommele mit den Fäusten gegen die Beine meines Großvaters. „Weg da, du Lümmel!“, posaunt er und stößt mich weg, so dass ich auf den Steinboden fliege. Ich gebe nicht auf, schreie um so lauter. Mutter erscheint auf der Kellertreppe mit ängstlichen Augen. Einen Moment trifft mein verzweifelter Blick auf den meines Großvaters. Er hält die Maus in der Hand, will sie erschlagen. Doch mein Blick erweicht ihn. Er öffnet die Kellertür und lässt die Maus in den Hof entkommen. Ich habe ihn und seine Schläge besiegt.
KORREKTURLESEN
Solange ich mich erinnern kann, sitzt mein Vater an einem kleinen Tisch und schreibt. Er schreibt Artikel für Zeitschriften, Wochenzeitungen oder auch seine eigenen Bücher.
Meine älteren Geschwister helfen meinem Vater beim Korrekturlesen. Wenn ich in die vierte Klasse komme, wird auch mir diese Aufgabe zugeteilt. Das Lesen schwieriger Texte ist am Anfang sehr mühselig. Obwohl ich beim Lesen kein Wort verstehe, bin ich fasziniert von der Macht der Wörter. Denn gemeinsam schaffen sie es, etwas auszudrücken. Die Ausdrücke bilden Sätze, und diese Sätze lassen ein ganzes Buch entstehen. Bald lese ich die Texte eifrig und träume sogar oft von ihnen. Die Wörter tanzen vor meinen Augen und ich versuche, ihre Plätze spielerisch zu vertauschen, um dem Satz eine neue Bedeutung zu verleihen. Manchmal male ich die Buchstaben mit bunten Farben, dann werden die Worte lebendig.
MIT EINEM RIESEN SPIELEN
Bei meiner Taufe, als ich zwei Jahre alt war, betrat ich dieses riesige Haus. „Das ist das Haus Gottes!“, sagte meine Mutter. Ich schaute auf die hohe Decke und dachte, Gott sei sicher ein sehr großer Mann, ein Riese. Und warum diese Bänke? „Gott erhält viele Besuche“, erklärte meine Mutter. Also war er ein netter Mann, und bald stellte ich mir vor, wie er sich bückte, um mit mir zu spielen.
„Wo ist er?“, wollte ich wissen, damit wir so schnell wie möglich spielen konnten. Ich hatte noch nie mit einem Riesen gespielt!
„Überall“, antwortete meine Mutter. Aber das war keine Antwort für mich. Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte und kam zu dem Schluss, dass Gott wie mein Vater war, der zur Arbeit ging und den ganzen Tag von zu Hause weg war. Und wir gingen in eine Ecke der Kirche, wo der Priester kaltes Wasser über meinen Kopf fließen ließ. Wenn ich meiner Schwester Wasser auf den Kopf gießen würde, hätte man mit mir geschimpft. Aber hier goss der Priester Wasser auf meinen Kopf, und keiner der Erwachsenen sagte etwas. Sie machten ernste Gesichter und der Priester sprach unverständliche Dinge. Ich wollte auf dem Schoß meiner Mutter sitzen und nicht auf dem meiner Patin, und mein Vater sah bedeutsam zu meiner Mutter hin. Als Rettung hatte ich bloß meinen Schnuller. Ich fing an, ihn in meinem Mund zu drehen und am Gummi zu kauen und sehnte mich danach, zu wissen, wann Gott endlich nach Hause kommen würde.
STILLZEIT
Nachmittagssonne durchflutet den Bauernhof. Über dem Misthaufen tanzen hunderte Fliegen und Mücken im orangefarbenen Licht. Wie wohl ich mich an Mutters Hand fühle, die leere Milchkanne in der anderen. Die schwüle Sommerluft schwanger mit dem Geruch aus den Ställen. Ich reiße mich von Mutter los, stürme in den Kuhstall. Schwalben zischen über meinem Kopf. Ich spüre den zarten Hauch ihrer Flügel über meine Haare streichen. Drinnen sitzt die Bäuerin auf einem Schemel, ein Tuch um den Kopf gebunden, die Stirn am warmen Kuhbauch. Meine kleine Seele lächelt ihr zu. Sie liebt mich, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. „Komm zu mir!“, ruft sie, umarmt mich, als ich bei ihr stehe, die Schuhe voller Gülle. Wie immer nimmt sie mich auf den Schoß. Sie riecht wie die Kühe. Wie ich das genieße, in mich einsauge. Ich schmiege mich an sie, lege meinen Kopf in ihren Arm, schließe die Augen, öffne meinen Mund. Sie spritzt mir frische Milch aus der Euterzitze in den Mund. Nie werde ich das vergessen, dieses Kitzeln im Hals, den warmen Kuhgeschmack und -geruch, die Zärtlichkeit der Bäuerin. Mutter steht neben uns und lacht.
MEINE LIEBLINGSMÄRCHEN
„Nun kam Johannes an die Reihe, er stieg auf sein Pferdchen und es ging …“
„trapp trapp trapp trapp trapp“, unterbrach ich meine Mutter.
„… und schon